10.2012 Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino sprach mit Lars Schafft über seinen neuen Roman Wenn wir Tiere wären, Melancholie und Ich-Zerfall – und darüber, welche Rolle dabei die Sexualität spielt.

Die Literatur hat sich in eine Richtung weiterentwickelt, die den Schubladen entflieht.

Belletristik-Couch:
Herr Genazino, der SPIEGEL schreibt, Sie seien der "Meistersinger des Schreckens". Ist es wirklich so schlimm?

Wilhelm Genazino:
Nein, natürlich nicht. Diese Formulierung sagt mehr über den Spiegel als über mich, das ist Humbug. Hochgezwirbelte Journalistensprache, die eigentlich ihr Objekt verfehlt.

Belletristik-Couch:
Sie schreiben für den Leser, der nicht die gleichen Vorkenntnisse mitbringt wie ein Journalist, Sie kommen mit jedem Buch ins Feuilleton aller großen Zeitungen und Sie werden auch literaturwissenschaftlich als einer der wenigen lebenden Autoren behandelt. Mit wem reden Sie lieber über Ihr Werk?

Wilhelm Genazino:
Das würde ich jetzt nicht so über den Daumen brechen, es kommt auf den Einzelfall an. Es gibt sehr kluge Journalisten und sehr schlichte Universitätsmenschen und umgekehrt. Beides ist möglich, wie immer. In der Regel habe ich es aber in beiden Fällen mit Leuten mit einem guten Hintergrund zu tun, was mich in gewisser Weise beruhigt. Es würde mich doch eher beunruhigen, wenn ich zunehmend von Windhunden umgeben wäre.

Belletristik-Couch:
Und wie sieht es mit der dritten Gruppe, den Lesern, aus?

Wilhelm Genazino:
Auch sehr gut. Ich kann mich nicht beklagen, meine Bücher werden tatsächlich gelesen! Was mich zuweilen wundert, denn sie sind keine Gute-Nacht-Lektüre. Man muss ein gutes Training in Weltkenntnis haben um das ein oder andere einfach mal so auf die leichtere, belletristische Schippe nehmen zu können.

Belletristik-Couch:
Befürchten Sie, dass Ihre Leser Sie nicht verstehen?

Wilhelm Genazino:
In einigen Fällen gibt es Grund dazu. Der Leser hat das Recht, Stellen zu überlesen, die ihm nicht passen oder überfordern, vor denen er sich aus irgendwelchen inneren Gründen sträubt. Das ist alles erlaubt.

Belletristik-Couch:
Wie viel steckt denn Ihrer Meinung nach dahinter, was der Leser nicht bemerkt? Kann man sagen, Sie bauen wirklich Stellen ein wie ein kleines Spiel? Bekommt der Leser mit, was Sie da meinen?

Wilhelm Genazino:
Es ist eher anders. Viele Leser – nicht alle, aber doch viele – haben sich ein bestimmtes Bild vom Autor gemacht. Viele sehen in mir einen heiteren Komödianten, der mit einigen milderen und einigen härteren Schärfen über die Runden kommt. Und sonst nichts.

Es ist durchaus erlaubt, dass jemand meint, meine Bücher seien komödiantisch und komisch – das sind sie auch, aber nur unter anderem.

Dann wiederum sehe ich, dass hier wieder ein Ausblender am Werk ist, der die Komplexität des Textes entweder real nicht erfasst oder nicht erfassen will, weil er beispielsweise eben diese Komplexität fürchtet.

Belletristik-Couch:
Ich wäre nie und nimmer auf "Komödie" gekommen oder hätte Sie als Comedian bezeichnet. Natürlich, es sind Schmunzler dabei, aber das bringt uns zurück zur Germanistik. Denn das, was Sie schreiben, passt ganz wunderbar zum Begriff der "Desillusionsromatik" von Georg Lukács. Unterschreiben Sie das?

Wilhelm Genazino:
Lukács, Gott!, der steht schon sehr lange im Regal. Ich hätte gerne ein paar neue Theoretiker, die mehr die Komplexität sehen. Ich meine das nicht als Vorwurf, aber Lukács ist ebenfalls – und das war halt zu seiner Zeit so – ein enormer Schubladenbediener. Die Literatur hat sich in eine Richtung weiterentwickelt, die den Schubladen entflieht. Deshalb kann ich mit solchen, älteren Kandidaten wie Lukács, nicht mehr sehr viel anfangen.

Belletristik-Couch:
Das wollten wir auch nicht, sonst wären wir wahrscheinlich hundert Jahre irgendwo stehen geblieben.

Wilhelm Genazino:
Ja.

Belletristik-Couch:
Allerdings spielte zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Rolle des Ichs oder der Zweifel am Ich, ja sogar der Ich-Zerfall eine große Rolle. Dazu passt ein Zitat aus Ihrem neuen Roman: "Ich wollte nicht der Mensch sein, der ich war."

Wilhelm Genazino:
Ja.

Belletristik-Couch:
Und wenn wir noch weiter über den Zerfall nachdenken, finden wir in Ihrem Roman "Mittelmäßiges Heimweh" einen Protagonisten, der ein Ohr verliert, so dass dieser Zerfall sogar körperlich wird. In Ihrem neuesten Buch beobachten Sie eine Ente, die auf einem Bein schlafen kann und einen Hund, der auf drei Beinen läuft. Körperlicher Zerfall, Ich-Zerfall – immer noch ein großes Thema?

Wilhelm Genazino:
Natürlich, das hört auch so schnell nicht auf – sowohl in der Realität als auch bei mir. Ein Vorgang, der mich sehr interessiert, weil Menschen trotz ihres Ich-Zerfalls flott weiterleben und gut über die Runden kommen. Wie auch immer beschädigt, ist es nicht nur eine inwendige Angelegenheit der Psyche. Die Menschen haben den Krieg durchgemacht, sie haben die Nachkriegszeit durchgemacht, die auch nicht gerade rosig war, und diese äußeren Einflüsse haben am Zerfall des Ichs natürlich maßgeblich Anteil. Das muss man einfach sehen.

Belletristik-Couch:
Das spielt in all Ihren letzten Romanen eine große Rolle. Es gibt aber keine Ausflucht.

Wilhelm Genazino:
Nein, die gibt es nicht, niemand kann sich seine Geschichte zurecht machen. Wir sind in den Weltverlauf und in die Zeit hineingestellt. Wir müssen irgendwie damit fertig werden oder auch nicht, eine Wahl gibt es jedenfalls nicht.

Belletristik-Couch:
Ihre Helden scheinen nicht damit klar zu kommen. Kommen Sie damit klar, persönlich?

Wilhelm Genazino:
Ah, mir ist das zu flott geurteilt. Die Helden kommen phasenweise damit klar, weil das Ich immer auch mal auftaucht als komplettes Ich. Nur lässt es sich nicht halten, es taucht wieder ab und zerfasert und zerstückelt sich. Warum, ist ein großes Rätsel. Aber man kann nicht sagen, dass sie ausschließlich an einem fragmentierten Ich leiden müssen, sie haben dann und wann ein komplettes Ich.

Belletristik-Couch:
In "Wenn wir Tiere wären" habe ich dieses komplette Ich nur darin wahrgenommen, dass dieses Ich aus der realen Welt fliehen will. Es möchte nicht viel mit Menschen zu tun haben, es beobachtet sehr genau, und wenn es Kontakt mit Menschen gibt, dann ist der auf Sexualität beschränkt.

Wilhelm Genazino:
Aber das ist doch nicht schlecht. Es gehört zu den Ausnahmen, dass dieser Mensch in der Sexualität eine komplette Ich-Erfahrung macht und das teilt er mit vielen anderen Menschen. Deswegen – unter anderem – ist die Sexualität auch so begehrt, sie setzt den Menschen zusammen. Das Erlebnis in der Sexualität stiftet Identität, da ist das Ich momentweise beisammen und zwar einfach auch in seiner Freude und in seiner Genugtuung. Andere Erfahrungen bringen das nicht so leicht zustande wie eben die Sexualität oder auch die Liebe, die natürlich auch dazugehört.

Belletristik-Couch:
Handelt es sich nicht um einen Widerspruch, wenn ich noch mal an die Geschichte mit dem Verlust des Ohrs erinnere, und dann jetzt der Hinbezug zur Sexualität, zum Körperlichen? Auf der einen Seite fehlt ein Körperteil und es spielt gar keine Rolle, auf der anderen Seite hilft das Körperliche dabei, das Ich zu finden?

Wilhelm Genazino:
Das Problem unseres Gesprächs ist jetzt, dass Sie mehrere Romane miteinander vermengen. Das sollte man eigentlich nicht tun, wenn Sie mir das erlauben zu sagen.

Das fehlende Ohr ist einfach ein Signal der gestiegenen Entfremdung dieses Erzählers und die Sexualität ist das genaue Gegenteil. Man sollte das nicht unbedingt miteinander in einen Topf werfen, beides ist möglich und beides habe ich oft beschrieben.

Belletristik-Couch:
Aber ich hatte auch gelesen, dass Sie gesagt haben, dass man sich als Schriftsteller irgendwie einer Linie treu bleiben muss und diese habe ich versucht, in Ihren Romanen zu finden.

Wilhelm Genazino:
Ja, normalerweise erledigt das sowieso die Psyche des Schriftstellers und die historische Gegebenheit seiner Geburt und seiner Sozialisation, was bei mir natürlich ebenfalls so ist. Ich habe ein Nachkriegssubjekt, habe Eltern, die die Kriegszeit und die Nachkriegszeit erlebt haben, die für sie mindestens ebenso übel war, und es ist selbstverständlich, dass diese Dinge auf mein Leben abgefärbt haben. Diese Dinge, ich will nicht sagen diktieren meine Wahrnehmung, aber sie sind immer dabei.

Ein Beispiel als ein Ergebnis dieser Wahrnehmung: Mit der Erscheinung des Luxus habe ich so meine Probleme. Dass sogar die Kinder heute schon über Luxus verfügen, ist mir dermaßen fremd und ich halte das für keine gute Entwicklung – logo! - weil ich's mir natürlich gar nicht richtig denken kann. Das ist eben einer der Automatismen, wenn man aus einer eigenen, kargen Kindheit kommt, dann versteht man die Luxuskinder von heute nur mangelhaft.

Belletristik-Couch:
Das heißt dann doch, dass in Ihren Protagonisten recht viel von Ihnen steckt.

Wilhelm Genazino:
Auf die ein oder andere Weise schon, klar. Es muss eine bestimmte Erdung geben, die Figur muss wirklichkeitsgesättigt sein und eine Erdung haben in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Erfahrungsradius. Und den kann man – wie ebenfalls schon gesagt – nicht wählen und in sofern habe ich auf meine eigenen Hintergründe zurückgegriffen, das ist klar.

Belletristik-Couch:
Sie haben ja manchmal, und das finde ich das Faszinierende daran, Passagen von sehr, sehr genauen Detailbeschreibungen aus dem wirklichen Leben, die man als belanglos bezeichnen könnte und die ein Großteil der Menschen gar nicht wahrnehmen, wie zum Beispiel, dass eine Ente auf einem Bein schlafen kann oder dass ein Grashüpfer sich auf einer Bettdecke breit macht. Beobachten Sie Ihre Umwelt genauso akribisch?

Wilhelm Genazino:
Es kommt auf diese Einzelheiten durchaus an. Diese Beispiele, die Sie genannt haben, sind für mich insofern wichtig, weil sie eine Krücke zur Muse sind. Die Szene mit der Ente passiert, als der Mann in einem Café sitzt und zur Ruhe findet. Das bestätigt sein Bedürfnis, dass er ebenfalls ruhebedürftig ist und zwar mehr als er Ruhe finden kann.

Die Sache mit der Heuschrecke ebenfalls - es kommen ja viele Szenen mit Tieren vor, was quasi eine Brücke ist zur momentweisen Trennung von der Welt, eine Möglichkeit von der fürchterlichen Raserei der Gegenwart ein paar Augenblicke zurückzutreten und in eine andere Poesie momentweise überzuwechseln.

Belletristik-Couch:
Würden Sie das allen Menschen raten, dazu, was unter "Entschleunigung" als Trendbegriff zu fassen ist?

Wilhelm Genazino:
Ja unbedingt, das haben wir schon nötig, nur ist es schwer da irgendetwas bestimmtes zu raten. Das muss ein Mensch selber auswählen, was ihm dabei hilft von den Bedrängnissen der Gegenwart vorübergehend Abstand zu nehmen. Das ist das Existenzexperiment eines Einzelnen. Nach meinem Dafürhalten haben es noch nicht sehr viele Menschen gemerkt, sie haben eine Art konsumistische Haltung und glauben, es müsste ihnen alles gesagt werden. Sie finden es befremdend, dass sie etwas selber herausfinden sollen, etwas, das ihnen persönlich gut tut. Etwas anderes, als dass sie am Wochenende wandern oder dass sie baden gehen, also wiederum an anderen Massenbewegungen teilnehmen, sondern Dinge, die mehr auf ihre eigene Person zugeschnitten sind, zum Beispiel die Wahrnehmung von Tieren und anderen Dingen.

Belletristik-Couch:
Was machen Sie persönlich in diesem Fall?

Wilhelm Genazino:
Ich beobachte natürlich, wie Sie schon erkannt haben, alles Mögliche, selbstverständlich auch Tiere. Ich fahre gerne Eisenbahn, nicht mit den ICEs, sondern mit irgendwelchen Regionalbahnen in die Landschaft hier in der Umgebung und schaue mir Kleinstädte an, die ich mir gerne anschaue. Ich gehe in Kleinstädten ins Kino, denn das Kleinstadt-Kino ist das, das in meiner Jugend das einzige Kino war, das es überhaupt gab. In der Nachkriegszeit gab es nur Stühle, noch keine Sitzpolster oder Sitzreihen, meist war das der Nebenraum einer großen Gastwirtschaft und der Wirt hat am Abend Stühle hineingestellt. Und so was kann man heutzutage noch in der Provinz finden, wenn man hier in den Odenwald fährt oder in die Pfalz oder den Schwarzwald – dort gibt es noch sehr erstaunliche Dinge.

Belletristik-Couch:
Sind Sie kein Freund der Großstadt?

Wilhelm Genazino:
Doch, bin ich auch. Aber ich brauche Pausen von der Großstadt und anderer Filme. Ich kann nicht ununterbrochen Großstadt erleben, das würde mich nerven und ich möchte nicht zu den Leuten gehören, die am Wochenende aufstöhnen, weil sie zu viel erlebt haben oder mit dem Verkehr nicht mehr klarkommen. Ich fahre halt irgendwohin, wo keine Großstadt ist und habe dann sozusagen einen anderen "Film". Ich habe auch kein Auto und will auch keines, weil mich das ebenfalls nervt, ich fahre mit den Eilzügen oder mit der S-Bahn.

Belletristik-Couch:
Also die Frage nach iPhone, online zu sein, dauernd E-Mails zu empfangen, erübrigt sich?

Wilhelm Genazino:
Die erübrigt sich, ja.

Belletristik-Couch:
Nicht vor, und bisher auch noch nie gehabt, nicht ausprobiert?

Wilhelm Genazino:
Nein, habe ich nicht, ich habe nur Telefon.

Belletristik-Couch:
Auch kein Handy?

Wilhelm Genazino:
Auch kein Handy, nein.

Belletristik-Couch:
Das funktioniert?

Wilhelm Genazino:
Natürlich funktioniert das [lacht]. Das würde bei allen anderen auch funktionieren, aber die Menschen sind halt Opfer ihrer eigenen Modernitätssucht. Sie glauben, an diesen Bewegungen teilnehmen zu müssen, weil sie andernfalls kein moderner Mensch sind. Das ist so stark, dass sie sich davon keinen Meter zu entfernen wagen.

Belletristik-Couch:
Und da sind Sie eisern?

Wilhelm Genazino:
Ich brauche es nicht, verstehen Sie? Wenn ich es brauchen würden, wenn mein Verleger, ein Freund, eine Freundin oder meine Tochter sagen würden: "Jetzt schaff dir mal ein Handy an, ich erreiche dich ja nicht", dann würde ich sofort lachen. Hier, mein Telefon, du kannst mich jederzeit anrufen [lacht]. Was ist denn das für ein Quatsch? Die Leute übernehmen irgendwann die Propaganda der Geräte und tun so, als seien das Tatsachen, sie unterscheiden gar nicht mehr dazwischen.

Belletristik-Couch:
Sie schreiben also auch nicht am Computer?

Wilhelm Genazino:
Nein, mache ich auch nicht.

Belletristik-Couch:
Schreibmaschine?

Wilhelm Genazino:
Mit einer Schreibmaschine, ja. Ich kann schon dieses Gefühl, an einen Apparat angeschlossen zu sein, nicht leiden. Schon dass dauernd irgendetwas summt, stört mich. Es muss Stille sein und die kann ich nur mit einer ganz normalen, wunderbaren Schreibmaschine kriegen, die ich bei jedem Buchstaben hören kann, aber sonst nicht.

Belletristik-Couch:
Ich hake nur ein bisschen nach, da ich eine andere Generation bin und es natürlich nicht ganz so einfach zu verstehen ist ...

Wilhelm Genazino:
… ja, das ist mir klar ...

Belletristik-Couch:
aber das finde ich interessant.

Wilhelm Genazino:
Warten Sie mal, werden Sie noch mal fünfzehn Jahre älter. Dann sieht's anders aus.

Belletristik-Couch:
Ja, ich bin jetzt schon dabei, oft mein Handy auszuschalten..

Wilhelm Genazino:
[lacht]

Belletristik-Couch:
Um auf die Beobachtungsgabe zurückzukommen: In Ihrem neuen Roman steht, dass der Protagonist ein "Soldat der Wirklichkeit, der aufnimmt, was sich ereignet" ist. Ein Soldat hat aber doch wenig Einflussnahme auf das, was er tut, er bekommt gesagt, was er tun muss. Warum ist es da ein Soldat? Warum sagt irgendein Feldwebel, was man tun muss und warum entscheidet man nicht selbst, wie man die Wirklichkeit wahrnimmt?

Wilhelm Genazino:
Das tut er, aber "Soldat" betont vor allen Dingen die Anwesenheit. Und zwar die uneingeschränkte Anwesenheit, was die Wirklichkeit angeht. Er ist verpflichtet, das fühlt er jedenfalls so, Wirklichkeit aufzunehmen wie ein ununterbrochen anwesender Soldat. Ein Soldat kann nicht sagen: "So, jetzt habe ich gerade mal genug, ich verdrücke mich jetzt einen halben Tag oder drei Stunden". Sie wissen, was dann passiert. In diesem Sinne ist diese Metapher gemeint, also "Soldat" heißt ununterbrochene Anwesenheit.

Belletristik-Couch:
Wäre nicht "Sklave der Wirklichkeit" sogar richtiger?

Wilhelm Genazino:
Nein, das ist ein Klischee. "Sklave" bedeutet das Moment der Vergewaltigung und der Überwältigung. Das wäre mir zu viel. Der Sklave erleidet etwas, während der Soldat nur anwesend ist. Wenn er unbedingt will, dann kann er gehen.

Belletristik-Couch:
"Soldat" war nur ein Wort, das mehrmals aufgetaucht ist. Was immer wieder mit Ihren Büchern in Verbindung gebracht wird, ist die Melancholie. Ist ja an sich nichts Schlechtes, oder?

Wilhelm Genazino:
Überhaupt nicht.

Belletristik-Couch:
Ich glaube, dass sehr viele große Werke unter Melancholie-Einfluss entstanden sind.

Wilhelm Genazino:
Das denke ich auch. Dies ist schlicht ein Ausdruck einer großen Differenz zur Wirklichkeit und diese Differenz bringt es manchmal mit sich, dass bei demjenigen, der sie empfindet, zuweilen Melancholien entstehen. So ist das bei diesem Held natürlich auch. Dem wird es auch zu viel und er ist schon deswegen manchmal etwas melancholisch.

Belletristik-Couch:
Ist der Eindruck richtig, dass ein Melancholiker eigentlich wissender ist als der Rest?

Wilhelm Genazino:
Das wäre mir jetzt zu riskant, zu behaupten. Er muss nicht unbedingt wissender sein, er hat ein genaueres Gefühl von vielen Dingen. Er weiß schneller, was ihm auf die Nerven gehen wird, was im Grunde sein Vorteil ist. Der Melancholiker weiß, das muss ich meiden, das muss ich meiden, und das muss ich meiden, denn wenn ich mich darauf einlasse, werde ich sehr schnell genervt, weil es dann doller wird und der Lärm wird doller und die Störung und all diese Dinge. Insofern hat er einen gewissen Vorsprung gegenüber Leuten, die dauernd lustig sind oder ununterbrochen Erlebnisse haben wollen, so wie die Freundin von dem Erzähler in dem neuen Buch. Diese ist dauernd erpicht darauf, etwas Tolles zu erleben …

Belletristik-Couch:
… den Kanaren-Urlaub zum Beispiel ...

Wilhelm Genazino:
… den Urlaub zum Beispiel oder dieses eine afrikanische Lokal, womit sie ihn beeindrucken will, wo man auf dem Boden sitzt und mit den Fingern isst. Da kriegt er natürlich das kalte Gruseln.

Belletristik-Couch:
Was hindert einen Menschen daran, vom Melancholiker zum Zyniker zu werden? Der Schritt ist doch sehr klein.

Wilhelm Genazino:
Das weiß ich nicht. Und vor allen Dingen kann man das auch nicht generell sagen. Es gehört in diesem Fall noch etwas dazu, nämlich das Moment der Verachtung. Es gibt keinen Zyniker, der nicht auch eine starke Verachtung empfindet und das ist bei der Melancholie an sich nicht dabei. Der Melancholiker entfernt sich nur, weil ihm dieses und jenes auf die Nerven geht, wie eben besprochen, aber ohne Verächtlichkeit. Wenn einer ein Zyniker ist, dann ist da ein enormer Betrag von Verachtung dabei und das gehört nicht zwangsweise zusammen.

Belletristik-Couch:
In dem Klappentext zu Ihrem neuen Buch steht: "Witzig und böse"."Witzig" hatten wir zu Anfang ja schon drüber gesprochen, aber ich finde es an keiner Stelle wirklich böse.

Wilhelm Genazino:
Das ist Temperamentsache. An einer Stelle sagt er, dass er "zwei Gebrauchtfrauen" hat, das kann man, wenn man eine Frau ist, ziemlich böse finden.

Belletristik-Couch:
Aber er bezeichnet sich ja auch irgendwann selbst als "Gebrauchtmann".

Wilhelm Genazino:
Ja, wenn man das für sich macht, dann bezahlt man die Rechnung. Wenn man das aber für andere macht, dann wird’s riskant. Das weiß ich, habe es aber trotzdem getan, weil ich zuweilen auch Lust habe boshaft zu sein – zweifellos.

Belletristik-Couch:
Das war auch ein Spiel mit dem Wort?

Wilhelm Genazino:
Natürlich. Einen Gebrauchtwagen kennt jeder. Es ist aber auch ein Massengefühl, dass wir haben und die Tatsache, dass wir in einer Sekundärwelt leben, in der wir alles, das wir kriegen und haben, egal was das ist, der Gebrauchtwelt entstammt. Ein bedeutsamer Vorgang, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Individuum auf Exklusivität seiner Erfahrungen besteht.

Belletristik-Couch:
"Individuum" ist auch ein schönes Stichwort, weil Ihr Protagonist sagt, dass er sich "nur momentweise als Individuum" fühlt.

Wilhelm Genazino:
Genau. Da ist wieder dieses Passagere, dieses Phasenhafte. Mal klappt es und dann sind die Verhältnisse mal wieder nicht so, dann klappt es gerade mal wieder nicht. Ich halte das für die einzige Möglichkeit, heutzutage ein Individuum zu sein, das heißt passager, also vorübergehend, nicht ganz und gar.

Belletristik-Couch:
Ist das ein Vorwurf an die Gesellschaft, dass wir alle 08/15 geworden sind?

Wilhelm Genazino:
Man muss das nicht mitmachen. Es ist eher ein Vorwurf an die Einzelnen, die das glauben. Die Einzelnen haben einfach zu wenig Mut, von den Dingen zurückzutreten, die fast alle machen. Heute ist es nicht mehr so schlimm wie früher. Der Urlaubszwang war, als ich ein junger Mensch war, dermaßen zwanghaft, dass die Menschen damals alle vorzugsweise nach Italien gefahren sind, und inzwischen gibt es doch Menschen, die sich sagen: "Ich fahre nicht in den Urlaub, sondern ich bleibe zuhause und gehe in den Zoo oder mache mal 'ne kurze Fahrt nach dahin oder eine Wochenendreise nach Amsterdam", aber das ist was anderes. Diese Offenheit gegenüber solchen Zwängen hat es damals, vor über dreißig Jahren, in dieser Weise nicht gegeben.

Ich sage, zum Glück – ich halte das für einen Fortschritt – ist diese Offenheit heute viel mehr verbreitet und die Menschen machen davon Gebrauch.

Belletristik-Couch:
Jetzt passt dann doch wieder das Bild des Soldaten. Wir sind alle genau wie Ihr Protagonist durch viele, viele Faktoren fremdbestimmt.

Wilhelm Genazino:
Wenn Sie nicht aufpassen, ist das wahr. Dann taumeln Sie von einer Fremdbestimmung in die andere.

Belletristik-Couch:
Wie das bei ihm ja geschehen ist. Man wird dann plötzlich nicht nur der Nachfolger in einer Beziehung, sondern auch im Job und irgendwann landet man sogar im Gefängnis.

Wilhelm Genazino:
Ja genau, das kann schnell gehen heutzutage. Aber es geht auch leicht, wenn man ein Bewusstsein dafür entwickelt, davon wieder Abstand zu nehmen und einen anderen Weg einzuschreiten. Das ist überhaupt der Schlüssel zur ganzen Geschichte: Bewusstsein von etwas zu haben, was der Zugang zur Abweichung ist.

Belletristik-Couch:
Wir sollen alle nicht mehr schlittern.

Wilhelm Genazino:
Ich habe keine Lust, mich als Volkspädagoge aufzuspielen. Ich halte mich dafür auch für vollkommen ungeeignet. Wenn Menschen meinen, sie müssten am Wochenende zu hunderttausenden ins Fußballstadion gehen - meinetwegen.

Belletristik-Couch:
Das ist gar nichts für Sie? Kein Eintracht-Fan?

Wilhelm Genazino:
Ich bin kein Eintracht-Fan, nein.

Belletristik-Couch:
Und Fußball?

Wilhelm Genazino:
Früher mal, es ist schon eine Weile her. Aber inzwischen nervt mich das auch. Diese Medienfixierung geht mir zu weit. Ich lehne das inzwischen ab, mich derartig ans Gängelband der Medien auch der Fernseh- oder Sportmedien zu hängen, es schränkt mich ein.

Belletristik-Couch:
Und Kontakt zu Menschen allgemein? Auch Ihr Protagonist zieht sich gerne mal zurück und sagt, dass er am liebsten morgens frühstückt und ungeduscht mit seiner Arbeit anfängt, wann er gerne möchte.

Wilhelm Genazino:
Das ist ein hilfloser Versuch in die Richtung, über die wir eben gesprochen haben. Er ist ein bisschen ungeschickt, weil er natürlich kein Intellektueller ist. Er denkt darüber nicht so klitzeklein nach, wie wir das tun. Er könnte auch nicht so darüber reden, wie ich darüber rede. Er ist ein Mensch, der unangenehme Entdeckungen macht, und da er kein Intellektueller oder Philosoph ist, rudert er ganz schön herum, um mit seinen Entdeckungen klarzukommen.

Belletristik-Couch:
Zu wenig Selbstreflexion kann man ihm aber nicht vorwerfen.

Wilhelm Genazino:
Nein, aber sie ist auch ein bisschen eng. Er hat oft ein nicht sehr offenes Bewusstsein.

Belletristik-Couch:
Zum Beispiel, was neue Anzüge betrifft.

Wilhelm Genazino:
Zum Beispiel.

Belletristik-Couch:
Herr Genazino, Ihr Titel "Wenn wir Tiere wären" zielt ein bisschen auf Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen. Möchten Sie zum Abschluss diese Pünktchen füllen?

Wilhelm Genazino:
Ich sehe die "Pünktchen, Pünktchen" nicht. Das ist nur eine Möglichkeitsform: Wenn wir Tiere wären. Den Rest muss sich ein Mensch dazu denken - oder auch nicht.

Das Interview führte Lars Schafft am 16.08.2011 per Telefon.

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