Bei Regen im Saal

  • München: Carl Hanser, 2014, Seiten: 160, Originalsprache
Bei Regen im Saal
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Sebastian Riemann
901001

Belletristik-Couch Rezension vonDez 2014

Das Glück für sich finden

Unzufrieden ist der Held und kann nicht anders als unzufrieden zu sein mit den Versuchen, sein Leben in bessere Bahnen zu lenken. In regelmäßigen Abständen überfällt ihn die Angst sein Leben zu verpfuschen, in alltäglichen Angelegenheiten die Kontrolle zu verlieren oder ziellos durch die Welt zu irren. Die Vorstellung vom geordneten Leben ist ihm dabei keine Hilfe, kein Kompass, der ihm die Richtung weist oder gar an ein Ziel führt. Mittels seiner eigenen Problembewältigungstechniken muss er sich durchschlagen. Meist ist er dabei träge, in Gedanken und Erinnerungen versunken. Ein gebildeter Mann, nicht mehr der Jüngste, ohne Bindungen und ohne Ziele, auf der Suche nach seinem Glück.

Der Protagonist des neuen Romans von Wilhelm Genazino ist eigenartig, im einfachsten Sinne des Wortes. Er betrachtet die Dinge auf seine Art, gibt ihnen persönlichen Wert, sucht nach Wegen und Möglichkeiten sein ganz eigenes Glück und Unglück zu lenken, ohne sich sonderlich um die allgemeinen Vorstellungen zu scheren, wie man sein Leben arrangieren soll und was erstrebenswert ist. Darunter leidet manchmal sein äußeres Erscheinungsbild, so dass ihn seine Geliebte ermahnen muss, sich doch endlich neue Socken oder eine Hose zu kaufen. Ähnlich verhält es sich mit der beruflichen Karriere, die nicht existent ist, weil der Protagonist nicht ernsthaft nach Geld oder gar Reichtum strebt und als Absolvent eines Philosophiestudiums auf dem Arbeitsmarkt ohnehin wenig gefragt ist. Vielmehr beschäftigen ihn weibliche Brüste, die denen seiner Mutter ähneln, und die Überwindung kleiner Ängste im Alltag, die mitunter von der fünfzehnjährigen Verkäuferin in der Bäckerei ausgelöst werden.

Sein Leben ist bei weitem nicht perfekt, aber auch nicht so schlecht, dass der Mann etwas ändern möchte. Doch dann verlässt ihn seine Geliebte, von einen Tag auf den anderen. Sie hat kurzentschlossen einen Kollegen aus dem Finanzamt geheiratet, wird fortan ein normales Leben führen und hat kein weiteres Interesse an ihrem alten, nachdenklichen Geliebten. Er ist davon ein wenig überrascht, aber wird nicht aus der Bahn geworfen. Er reagiert wenig emotional auf derartige Vorfälle, bleibt äußerlich ganz ruhig. Erst nach längerer Zeit bemerkt er, dass sie ihm fehlt, nicht nur der Sex mit ihr. Da seine ehemalige Geliebte sich nicht wohl fühlt in dem neuen, überstürzt gewählten Lebensstil, findet sie bald ihren Weg zurück zu ihm und ihre Beziehung wird erneut belebt. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits seinen Job als Rezeptionist in einem Hotel hinter sich gelassen und eine Tätigkeit gefunden, die ihm ein wenig Wertschätzung seiner Mitmenschen einbringt. Durch die Vermittlung eines Freundes gelangte er in die Redaktion einer Provinzzeitung. Er selbst empfindet Verachtung für die Ereignisse auf dem Lande und ebenso für seine Kollegen und die Leser der Zeitung. Seine neue Aufgabe entspricht nicht seinem Bildungsstand und auch nicht seinen Möglichkeiten. Probleme, die er vorher, in der Rezeption des Hotels, nicht spürte, da er eine Arbeit ausführte, die in keinster Weise mit seiner Person verbunden war. Sobald jedoch seine Fähigkeiten ein wenig gefordert werden, sieht er niemanden, der die intellektuellen Voraussetzungen erfüllt sein Schaffen zu würdigen, und deshalb zieht er sich zurück auf seine überhebliche Warte des Philosophen, der den Provinzlern bei der Berichterstattung hilft. Ein durchaus sympathischer Kauz, der den Leser öfters zum Lachen bringt.

Das Buch lebt von der geistreichen und unterhaltsamen Suche nach Glück, die den Protagonisten bestimmt. Dabei sorgen Sex, Arbeitsleben, Alltagsängste und die Erinnerungen an die verstorbenen Eltern für das nötige Material. Oft wägt man Sigmund Freud im Hintergrund, der mit viel Freude und dem Gefühl der Bestätigung den Ausführungen des Protagonisten zuhören mag. Die Probleme mit dem Vater, die Begeisterung für die Brüste der Mutter, welche sein Verhalten gegenüber Frauen im weiteren Leben prägt, und die unstete Libido spielen immer wieder den Ideen des Wiener Psychoanalytikers zu. Nicht trocken und übermäßig reflektiert, sondern lebensnah und mit sprachlicher Eleganz werden die Probleme und Gedanken dargeboten.

 

"Wie immer sinnierte ich ergebnislos darüber, warum ich meine Eltern zu ihren Lebzeiten nicht mochte. Erst ungefähr zehn Jahre nach ihrem Tod begann ich allmählich, ihnen zu verzeihen und sie sogar zu schätzen. Dabei gab es nichts, was ich ihnen hätte verzeihen müssen – außer, dass ausgerechnet sie meine Eltern waren. Sogar die humpelnden Tauben sahen meinen toten Eltern ähnlich. Die Tiere liefen, genau wie meine Eltern, immerzu mit nickendem Kopf umher und suchten etwas."

 

Das Thema Glück nimmt einen prominenten Platz im Schaffen Genazinos ein. Das Streben nach Glück tritt bei seinen Charakteren deutlich hervor, bestimmt ihr Handeln und große Strecken des Verlaufes der Geschichte. Bei Regen im Saal reiht sich somit nahtlos in das Gesamtwerk des Frankfurter Schriftstellers ein und ist ein weiteres Stück seiner Kunst, die bereits mit vielen Preisen gewürdigt wurde.

Bei Regen im Saal ist große, zeitgemäße Unterhaltung. Es ist vielschichtig und doch so herrlich einfach, schnell verschlingt man dieses Buch und lange danach bleibt es einem noch im Gedächtnis, weil es komisch und schön ist, so ehrlich in den trübseligen Momenten und so gut geschrieben.

Bei Regen im Saal

Wilhelm Genazino, Carl Hanser

Bei Regen im Saal

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