12.2011 Der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete deutsche Autor Hanns-Josef Ortheil sprach mit Britta Höhne über seinen neuen Roman "Liebesnähe", über Schreibblockaden, Woody Allen, Fahrrad fahrende Frauen und über die Liebe.

Ich bin ein geradzu manischer Kritzler

Belletristik-Couch:
Der dritte Teil ihrer Roman-Trilogie, bei dem es um das Geheimnis der Liebe oder besser der Verständigung über die Liebe geht, ist abgeschlossen. Nach "Die große Liebe" und "Das Verlangen nach Liebe" ist "Liebesnähe" erschienen. Ein großartiger Roman, wie ich finde. Warum dreht sich bei Ihnen alles um die Liebe? Ihrer Vita entnehme ich, dass Sie ein viel beschäftigter Mann sind, und dennoch ist es die Liebe, die sie lockt, einen viele Seiten umfassenden Roman zu schreiben?

Hanns-Josef Ortheil:
Ich bin als zunächst stummes Kind zusammen mit einer lange Zeit stummen Mutter in einem starken Liebesraum aufgewachsen. (Davon erzählt habe ich in meinem Roman "Die Erfindung des Lebens".) In diesem Raum ersetzten die körperlichen und psychischen Signale das Sprechen. Den anderen lieben – das bedeutete: ihn sehr genau beobachten, ihn begleiten, eng an seiner Seite zu leben. Ein solches Leben hat mich stark geprägt, ich träume manchmal noch immer von ihm, und manchmal sehne ich mich nach seiner Intensität. Deshalb schreibe ich immer wieder über die Liebe.

Belletristik-Couch:
Hört dieses Thema niemals auf? Oder lässt es einfach die meisten Spielarten zu?

Hanns-Josef Ortheil:
Nein, für mich hört dieses Thema nie auf. Ich denke sehr oft darüber nach, was genau "Liebe" ist, in welchen Formen sie erscheint und wie sich die "Liebe" immer wieder neu finden lässt. Im Grunde bin ich dabei mit dem Erlebnisraum meiner Kindheit beschäftigt. Auch als Erwachsener bewege ich mich zumindest teilweise noch immer in diesem Raum.

Belletristik-Couch:
Welche Ihrer drei Hauptfiguren sind Sie? Jule, Johannes oder Katharina? Ich wäre gerne Katharina. Zwar ist sie ungleich älter als ich, aber ich würde gerne dahin kommen, mich so selbstbewusst durchs Leben zu bewegen wie sie. Gibt es ein Vorbild?

Hanns-Josef Ortheil:
Katharina agiert in vielem ganz ähnlich wie meine Mutter (die übrigens denselben Vornamen hatte). Sie war von Beruf Bibliothekarin und eine sehr passionierte Leserin. Ihre Lektüren hielt sie auf kleinen Notizzetteln fest: wann und wo sie ein bestimmtes Buch gelesen, wie es ihr gefallen hatte, und wem sie es zur Lektüre weiterempfehlen würde. Genau so geht ja auch die Buchhändlerin Katharina in meinem Roman vor. Sie füttert ihre Kunden mit Lektüren, die genau auf diese Kunden abgestimmt sind. 

Belletristik-Couch:
Eigentlich wirkt Ihr Roman alles andere als modern. Außer vielleicht, dass Sie manchmal ein paar Worte durchgehen lassen, die eindeutig der Umgangssprache zuzuordnen sind. Aber ist nicht gerade Katharina der Moderne entsprungen? Ist es nicht sie, die Schicksal spielt? Auch wenn sie selbst behauptet, nichts weiter getan zu haben, als Jule und Johannes "auf die Insel" einzuladen?

Hanns-Josef Ortheil:
Im Blick auf Katharina kann ich, ehrlich gesagt, mit dem Begriff "modern" nicht allzu viel anfangen. Soll ich "modern" als "jetztzeitig", "gegenwärtig" verstehen? Dann würde ich aber sagen, dass meine drei Hauptfiguren keine großen Anstrengungen unternehmen, als "Jetztzeit"-Figuren zu erscheinen. So nehmen sie alle zum Beispiel keinen großen Anteil an den üblichen Zerstreuungen und Unternehmungen. Sie leben sehr konzentriert, sie leben "Lebensprojekte", sage ich mal. In gewisser Weise bleiben sie stur und für sich, unserer Event-Kultur jedenfalls können sie nur wenig abgewinnen.

Belletristik-Couch:
Was reizt Sie an japanischen Büchern wie dem "Kopfkissenbuch"? Ein Buch übrigens, das ja keine Fiktion ist, sondern wirklich existiert.

Hanns-Josef Ortheil:
Das "Kopfkissenbuch" der japanischen Hofdame Sei Shonagon ist in der Tat eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Obwohl es über tausend Jahre alt ist, erscheint es von geradezu rührender, zeitgemäßer Aufmerksamkeit für die kleinsten Details des Lebens: für Stimmungen, Atmosphären und Dinge, die man sonst übersieht. Und ganz nebenbei ist es auch ein Buch über die "Liebe", aber über eine, über die man kaum Worte macht. Stattdessen besteht es aus feinsten Andeutungen.

Belletristik-Couch:
Was ist Sprache für Sie? Sie sind auch Dozent, das geht nicht non-verbal! Es muss anders gehen als bei Jule und Johannes, die während des ganzen Romans nicht miteinander reden!

Hanns-Josef Ortheil:
Als Dozent bemühe ich mich, eine eigene Sprache für all das zu finden, was mir besonders wichtig ist. Ich möchte so sprechen, dass ich nicht nur wie ein Lehrer erscheine, der einen bestimmten Lernstoff vermittelt. Vielmehr möchte ich in meinem Sprechen als lebendige Person wahrgenommen werden, als jemand, der auch den direkteren, persönlichen Zugang zu einem Stoff sucht. Anders gesagt: Ich verdränge meine persönlichen Beobachtungen und Empfindungen nicht, ich bringe sie in den Unterricht ein, ich erläutere sie und frage meine Studenten, wie sie selbst auf bestimmte Texte reagieren. 

Belletristik-Couch:
Schreiben Sie auch Zettelchen?

Hanns-Josef Ortheil:
Nicht nur das, ich notiere jeden Tag, ich bin ein geradezu manischer Kritzler, Auf- und Mitschreiber. Ich habe über die Kunst des "Notierens und Skizzierens" sogar ein eigenes Buch geschrieben. Es ist gerade im DUDEN-Verlag erschienen.

Belletristik-Couch:
Eine Passage in ihrem Roman gefällt mir besonders gut. Johannes, der Stille, der zunächst Hilflose, meidet Geschwätz. Er hat es immer gehasst, es ist für ihn leicht verderblich. "Ein hilfloses Plappern, das rasch viel zerstören kann." Ist Johannes ein bisschen Ortheil oder Ortheil ein bisschen Johannes? Wie viel Wahrheit steckt in Ihrem Roman? Oder wird die Romanform gewählt, weil Wahrheit nicht interessiert und all die Fantasien und Wünsche in die momentanen Protagonisten fließen können?

Hanns-Josef Ortheil:
Ja, da ist etwas dran: dass man die eigenen, sonst geheim gehaltenen Fantasien und Wünsche in die eigenen Figuren implantieren kann. Das verläuft aber keineswegs einseitig, es ist vielmehr auch immer so, dass die Figuren, sobald man sie einmal entworfen hat und dann mit ihnen zu spielen beginnt, von sich aus Fantasien und Wünsche entwickeln. Sie verführen einen gleichsam, freier und unbekümmerter zu sprechen und zu denken.

Belletristik-Couch:
Herr Ortheil, einmal ganz ehrlich: Sie sind Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus und Pianist, Sie schreiben zudem Romane und viele andere Bücher. Das funktioniert doch nur, wenn man sich ausklinkt, häufig schweigt und ein bisschen Johannes wird, oder?

Hanns-Josef Ortheil:
Nein, ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Sie haben recht damit, dass ich sehr viel arbeite. Aber ich bin auch immer erstaunt darüber, dass mir das selbst gar nicht so bewusst ist. Und anderen übrigens auch nicht. Ein Freund unserer Familie hat meinen Sohn einmal gefragt, ob er den Vater nicht häufig entbehren müsse, weil der soviel arbeite und während dieses Arbeitens allein sei. Mein Sohn hat geantwortet: "Nö, ich entbehre ihn nicht, eigentlich merkt man ja gar nicht, dass er soviel arbeitet." Das fand ich großartig, das deckt sich vollkommen mit meiner eigenen Wahrnehmung. Ich arbeite viel, aber ich mache daneben noch sehr viele andere Dinge.

Belletristik-Couch:
Kennen Sie selbst Schreibblockaden? Wenn ja, wie befreien Sie sich davon?

Hanns-Josef Ortheil:
Nein, ich hatte noch keine Schreibblockaden. Ich vermute, sie stellen sich vor allem dann ein, wenn ein Schreiber sich an einem Projekt überhebt. Oder wenn bestimmte emotionale Sensoren, die den Schreiber mit den Buchstaben verbinden, ausgefallen oder abgestorben sind. Ich habe so etwas bisher zum Glück noch nie erlebt. Ich kann mir aber genau vorstellen, wie sich das anfühlt.

Belletristik-Couch:
"Mit Frauen, die gerne Fahrrad fahren, liegt man nie falsch", lassen Sie Johannes sagen. Herr Ortheil, wer oder was lässt Sie solche Vermutungen, nein Behauptungen aufstellen? Eine großartige Aussage. Ich fahre Rennrad – und dürfte demnach eine ganz passable Besetzung sein!

Hanns-Josef Ortheil:
Sie fahren Rennrad? Wirklich?! Wann und wo können wir uns treffen? – Im Ernst, ich habe ein starkes Faible für Frauen, die Fahrrad fahren, aber ich weiß absolut nicht, warum das so ist. Manchmal bleibe ich mitten im Straßenverkehr stehen und schaue einer Fahrrad fahrenden Frau lange hinterher. Es ist peinlich und verrückt, es ist, als verfiele ich in Trance. Irgendein Moment in der tiefsten Seele macht da mit mir, was es will. Ich kann es mir nicht erklären.

Belletristik-Couch:
Haben Sie Woody Allen je Saxophon spielen hören? Ich ja. In seinem New-Yorker-Club, und das war alles andere als mitreißend. Haben Sie Wunschträume? Würden Sie ihn gerne einmal am Klavier begleiten?

Hanns-Josef Ortheil:
Ich habe Woody Allen einmal im Teatro Goldoni in Venedig Saxophon spielen hören. Mitreißend fand ich es auch nicht, aber ich war dennoch begeistert. Er kam so locker auf die Bühne geschlendert, in Cord-Jeans und mit einer Wolljacke, als käme er gerade aus seinem Wohnzimmer. Oder als käme er aus einem Kinderzimmer. Ja, das war es, er wirkte wie ein pubertierender Jüngling, der sich dafür schämt, dass er Saxofon spielt. Dieser Jüngling war noch nicht ganz eins mit dem Instrument, es war ihm noch ein wenig fremd. So empfand er alles als peinlich – die Musik, das Saxofon, sich selbst. Ihn am Klavier zu begleiten, das reizt mich eigentlich nicht. Stattdessen würde ich gerne einmal zusammen mit Hélène Grimaud Mozarts Klavierkonzert für zwei Klaviere in Es-Dur einspielen. Das wäre das Größte.

Belletristik-Couch:
Eine Roman-Trilogie ist, logisch, mit dem dritten Teil vollständig. Wie geht es weiter, Herr Ortheil? Sie schreiben doch weiter, oder? Ich habe Sie doch gerade erst für mich entdeckt...

Hanns-Josef Ortheil:
Ich schreibe an einem Buch, in dem ich darüber nachdenke, was mich an Fahrrad fahrenden Frauen und an anderen für mich geheimnisvollen Wesen, Dingen und Ereignissen so anzieht. Es soll ein Buch über das Magische werden, ein Buch über Magien im Alltag gleichsam. Das Ganze soll "Die Welt nach meinem Geschmack" heißen. Es wird also kein Roman sein, sondern ein Buch aus vielen kleinen Erzählungen, Überlegungen und Andeutungen. Mal sehen. Ich sitze gerade daran, und es macht mir sehr viel Vergnügen, daran zu arbeiten.

Belletristik-Couch:
Herr Ortheil, ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten.

  

Das Interview führte Britta Höhne im November 2011.

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik