04.2015 Jennifer Clement über die Arbeit an ihrem Buch, das Zuhören, die Kraft der Belletristik und Mexikos furchtbare Gegenwart, sowie seine Schönheit.

Ehefrauen, Freundinnen und Töchter von Drogenhändlern.

Belletristik-Couch:
Liebe Frau Clement, Sie haben haben einen hoch gelobten Roman über Menschenhandel in Mexiko geschrieben, ein Buch, in dem Frauen Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind. Wir kamen Sie dazu über dieses Thema zu schreiben?

Jennifer Clement:
Es hat mich interessiert, wie sich die Gewalt in Mexiko auf Frauen auswirkt. Dieses Thema findet nur wenig Beachtung in den Nachrichten und in der Literatur. Zuerst befragte ich Frauen, die Ehefrauen, Freundinnen oder Töchter von Drogenhändlern waren, aber dann, nach einigen Jahren, bemerkte ich, dass Menschenhandel im Allgemeinen, Handel mit Mädchen insbesondere, ein viel lukrativeres Geschäft ist als der eigentliche Drogenhandel. Die mexikanischen Drogenkartelle sind mittlerweile transnationale Mafia-Organisationen, die in verschiedenen Bereichen des internationalen Verbrechens arbeiten.

Belletristik-Couch:
Wer war ihre erste Kontaktperson, die Sie mit der Situation vertraut machte, und was war so besonders an dieser Person?

Jennifer Clement:
Die erste Person, die ich in Bezug auf die Geschichte meines Romans traf, war eine Frau aus Mexiko-Stadt, die als Wäscherin arbeitete. Sie erzählte mir, dass die Mädchen in ihrer ländlichen Gemeinde immerzu entführt werden. Deshalb gruben sie Löcher in den Feldern, in denen sie ihre Mädchen versteckten, sobald sie die Kriminellen [die Mitglieder der Drogenkartelle, Anm. d. Ü.] in ihren großen Geländewagen heranfahren sahen.

Belletristik-Couch:
Für ihren Roman haben Sie viele Interviews geführt. Wie war die Arbeit mit den Frauen, wollten sie über ihre Erfahrungen sprechen oder war es schwierig die entsprechenden Informationen von ihnen zu erhalten?

Jennifer Clement:
Es ist meine Erfahrung, dass jeder gerne seine Geschichte erzählt oder jemanden hat, der ihm zuhört – eine Kombination aus beidem. Ich habe ihnen niemals ein Mikrofon vorgehalten oder ihnen das Gefühl gegeben, ausgefragt zu werden. Stattdessen habe ich zugehört und mich ihnen behutsam genähert. Ich habe ihnen klar gemacht, dass sie von Bedeutung sind, und für mich waren sie das auch.

Belletristik-Couch:
Das Thema ihres Buches ist sehr emotional, die Interviews waren es sicherlich auch. Wie stark haben die Geschichten, die Sie gehört haben, auf Sie gewirkt?

Jennifer Clement:
Ich schreibe immer über Dinge, die mich nicht mehr loslassen, die mich nicht schlafen lassen. Die Geschichten dieser Frauen haben mich sehr bewegt und der Schmerz, den ich dabei fühlte, ließ mich dieses Buch schreiben. Zuvorderst bin ich an Sprache und Form interessiert; Handlung, Struktur, Charakter und Stimme. Ich bin keine Expertin für Menschenrechte, auch keine Anwältin. Ich bin Schriftstellerin, und obwohl ich in den letzten zehn Jahren mit mexikanischen Frauen gesprochen habe, die Opfer der Gewalt Mexikos waren, nenne ich es nicht Befragen, sondern Zuhören, da Zuhören einen anderen Ursprung hat, mehr Mitgefühl besitzt – es ist wohl der Freundschaft näher. Ich suche auch immer eine poetische Erfahrung und nach der Koexistenz zwischen dem Göttlichen und dem Profanen oder zwischen Schönheit und Hässlichkeit. Mein Roman sollte auch verzaubern. Viele der starken Eindrücke im Roman sind real. Das Bild der Mädchen, die hässlich gemacht und in Löchern versteckt werden, kam direkt von jemanden, den ich in Mexiko-Stadt traf. Sie erzählte mir von den Entführungen der Mädchen in ihrer Gegend, dem Bundesstaat Guerrero, und erklärte, wie sie Löcher gruben in den Maisfeldern, um ihre Töchter zu verstecken, wenn die Drogenhändler kamen, um sie zu holen. Und so entstand der Roman. Ich konnte in jener Nacht nicht schlafen; ich konnte an nichts anderes mehr denken. Die Stimme von Ladydi [,der Protagonistin des Buches, Anm. d. Ü.] kam zu mir und hielt mich fest. Sie ist lebhaft und zerbrechlich, überhaupt nicht sentimental oder wertend. Es wird wenig über das Thema der Entführungen der Mädchen berichtet. Die Auswirkung von Gewalt gegenüber Frauen muss häufiger diskutiert werden und sie muss aufgehalten werden.

Belletristik-Couch:
Es war sicherlich nicht leicht über ein Thema zu schreiben, das eine erschreckende Realität in dem Land wiedergibt, in dem Sie leben. War es einfach für Sie konzentriert zu arbeiten und eine gewisse Distanz zu bewahren, während Sie über dieses Thema schrieben?

Jennifer Clement:
Ja, es war einfach. Ich verstehe mein Buch als ein Requiem für Mexiko. Ich befragte, auch wenn ich den Begriff zuhören bevorzuge, Frauen in allen möglichen Situationen. Ein Beispiel dafür ist der Bezug auf die Technologie in der primitiven Welt. Die Menschen im ländlichen Guerrero haben in Häusern mit dreckigen Fußböden gelebt, aber sie hatten große Flachbildfernseher. Ich bemerkte, wie bizarr Wissen sein kann. Im Roman wird es „Fernsehwissen“ genannt. Und letztendlich besitzen wir alle dieses seltsame Wissen, welches nicht Wissen aus Büchern, Unterricht oder Erfahrung ist. Ich habe nicht die Pyramiden in Ägypten besucht, aber ich habe die Dokumentation über sie gesehen. Die Wahrheit ist, dass man viele Dinge im Fernsehen besser sieht, die Aufnahmen sind näher am Geschehen, man muss auch nicht in einer Schlange stehen und warten. „Fernsehwissen“ hat, in gewisser Hinsicht, sehr viel Einfluss. Ladydi sagt, „you don´t even have to live anything, you can see rape and death and your whole life on television.“ Des Weiteren habe ich den Bundesstaat Guerrero besucht, seitdem ich ein Baby war. Ich kenne die Gegend und die Leute ziemlich gut.

Belletristik-Couch:
Sie beschreiben eine bestimmte Realität in Mexiko. Haben Sie darüber nachgedacht, nicht fiktiv zu schreiben?

Jennifer Clement:
Ich glaube, Belletristik besitzt eine Kraft, die Journalismus nicht hat. In manchen Fällen kann Belletristik Menschen eine Stimme geben, die schweigen oder zum Schweigen gebracht wurden, sie kann dadurch Mitgefühl beim Leser erzeugen. Literatur hat große Veränderungen in der Welt bewirkt. Charles Dickens´ Oliver Twist hat Kinderarbeit verändert. Die Werke von Jane Austen und Charlotte Bronte haben Eigentumsrechte für Frauen verändert. Die Arbeiten von Emile Zola und Victor Hugo haben die Gesetze und die Einstellungen gegenüber Armut und Ausbeutung der Minenarbeiter verändert. Jedoch erinnern wir uns nicht an die Zeitungsartikel, die zur gleichen Zeit wie die erwähnten Werke geschrieben wurden. In vielen Fällen wurde ich durch Geschehnisse in Romanen stärker beeinflusst als durch meine eigenen Erlebnisse oder Ereignisse, über die ich in Zeitungen gelesen habe.

Belletristik-Couch:
In den USA wurde ihr Buch sehr gelobt. Wie wurde es in Mexiko aufgenommen?

Jennifer Clement:
Das Buch wurde in Mexiko sehr begrüßt. Es hat eine starke Wirkung gehabt, da es das Thema auf eine liebevolle, bezaubernde und manchmal komische Weise behandelt. Die meisten Romane zu dem Thema sind voller Gewalt und Sex, mitunter in pornographischer Manier.

Belletristik-Couch:
Lydia Cacho, eine mexikanische Schriftstellerin und Journalistin, hat ebenfalls über Menschenhandel und Prostitution in Mexiko geschrieben. Ihr Untersuchungen ergaben die Verflechtungen hochrangiger Politiker, deshalb wollte viele sie von der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse abhalten. Aufgrund von Drohungen musste sie aus dem Land fliehen, nachdem ihr Buch veröffentlicht wurde. Fühlten Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt bedroht und wie haben Fälle, wie Lydia Cacho, ihre Arbeit beeinflusst?

Jennifer Clement:
Ich kenne Lydia sehr gut. Wir sind Freundinnen und die ersten Frauen, die ich in ihren Verstecken befragte, waren Frauen, mit denen sie mich in Kontakt setzte. Die größte Gefahr fühlte ich aber als ich Präsidentin der mexikanischen PEN Vereinigung war und über die Ermordung und das Verschwinden von Journalisten berichtete. Regierungen interessieren sich nicht für kleine Mädchen, aber für Journalisten.

Belletristik-Couch:
Was ist das Besondere an der Region – dem Bundesstaat Guerrero – in der Sie ihre Informationen gesammelt haben?

Jennifer Clement:
Es ist ein herrlicher Teil des Landes, aber jetzt ist es der Ort, an dem Mohn angebaut und Heroin hergestellt wird, für die Konsumenten in den USA.

Belletristik-Couch:
Die meisten Männer in ihrem Buch verursachen Schmerz, direkt oder indirekt. Geht es Ihnen auch um das Leiden der Frauen in der mexikanischen Gesellschaft, die von Männern bestimmt wird?

Jennifer Clement:
Ich kenne Lydia sehr gut. Wir sind Freundinnen und die ersten Frauen, die ich in ihren Verstecken befragte, waren Frauen, mit denen sie mich in Kontakt setzte. Die größte Gefahr fühlte ich aber als ich Präsidentin der mexikanischen PEN Vereinigung war und über die Ermordung und das Verschwinden von Journalisten berichtete. Regierungen interessieren sich nicht für kleine Mädchen, aber für Journalisten.

Belletristik-Couch:
Was ist das Besondere an der Region – dem Bundesstaat Guerrero – in der Sie ihre Informationen gesammelt haben?

Jennifer Clement:
Ich denke, dass Männer nicht mehr ihre Frauen beschützen. Frauen brauchen Männer, die sie unterstützen im Kampf gegen den Menschenhandel und die Entführungen von Frauen auf der ganzen Welt. Ich denke, dass mein Roman einige wunderbare Männer enthält. Rita sagt sogar, dass das Leben ohne Männer wie ein Schlaf ohne Träume ist. Ich bin überzeugt, dass mein Roman zum Ausdruck bringt, wie sehr Frauen Männer brauchen und lieben.

Belletristik-Couch:
Sie begannen mit den Nachforschungen für ihr Buch vor mehr als zehn Jahren. Können Sie sich daran erinnern, was ihr erster Eindruck der Situation war und wie diieser Eindruck sich über die Jahre verändert hat?

Jennifer Clement:
Er hat sich nicht verändert in den letzten zehn Jahren. In der Tat fühle ich mich wie ein Prophet im eigenen Land, aufgrund der jüngsten Ereignisse.

Belletristik-Couch:
Als Sie ihre Nachforschungen aufnahmen, hatte Mexiko noch nicht den Krieg gegen die Drogenkartelle aufgenommen. Dieser Krieg begann im Dezember 2006 mit der entsprechenden Bekanntgabe des damaligen Präsidenten Calderón, der von den USA unterstützt wurde. Haben Sie einen Unterschied seit diesem Zeitpunkt bemerkt?

Jennifer Clement:
Ja, es war ein großer Umbruch. Ich befragte untergetauchte Frauen von Drogenhändlern, während der Zeit von Präsident Fox. Als ihm Präsident Calderón folgte, wurde es zu gefährlich diese Arbeit fortzusetzen. Dieser sogenannte Krieg hat Chaos im gesamten Land verursacht.

Belletristik-Couch:
Angst bestimmt zu großen Teilen die Atmosphäre in jenem vergessenen Dorf in ihrem Roman; Frauen fürchten die Gewalt der Männer. Für ihre Nachforschungen mussten Sie sich dieser Situation nähern. Als Frau sind Sie ebenso ein potentielles Ziel der Gewalt, die von den Frauen ihres Romans gefürchtet wird. Wie nah sind Sie dieser Realität, dieser Gewalt gekommen? Besuchten Sie regelmäßig Dörfer in Guerrero oder wie haben Sie teilgenommen, ohne sich dabei in Gefahr zu bringen?

Jennifer Clement:
Es gab Orte, die ich niemals besuchen konnte. Jedoch verdienten viele der Frauen, die in den gefährlichen Dörfern lebten, ihr Geld an Orten wie Acapulco, wodurch ich mit ihnen sprechen konnte, dort, wo sie als Haushaltshilfen, Kellnerinnen oder Verkäuferinnen arbeiteten.

Belletristik-Couch:
In letzter Zeit geriet Mexiko in die Schlagzeilen aufgrund 43 entführter und wahrscheinlich getöteter Studenten im Bundesstaat Guerrero, die Gegend, in der ihr Roman spielt. Ist es ein weiteres Beispiel einer Kultur der Gewalt in dieser Region, in diesem „heißen Land“?

Jennifer Clement:
Ja, für die unter uns, die wir diese Region Mexikos kennen, war es keine Überraschung. Es ist unmöglich für Mexiko seine Probleme allein, ohne die Hilfe der USA, zu lösen. Es ist eine furchtbare Ehe: die Drogen finden ihren Weg in die USA und die Waffen kommen nach Mexiko (jüngste Statistiken haben gezeigt, dass die Hälfte aller Waffenhändler in den USA ihr Geschäft einstellen müssten, wenn der legale und illegale Waffenfluss über die Grenze gestoppt würde).

Belletristik-Couch:
Liebe Frau Clement, vielen Dank für ihre Zeit und die Beantwortung der Fragen.

  

Das Interview führte Sebastian Riemann im März 2015. Übersetzung: Sebastian Riemann

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