Kristina Hauff

02.2021 Sandra Dickhaus im Gespräch mit Kristina Hauff, Autorin von "Unter Wasser Nacht".

"Es geht um Lebenslügen, und darum, was passiert, wenn uns diese um die Ohren fliegen. Es gehört viel Mut dazu, loszulassen und neu anzufangen. Um mit den gescheiterten Träumen abzuschließen, muss man sich eigenem Versagen und verdrängten Schuldgefühlen stellen. Aber noch wichtiger ist: Man muss das Verlorene betrauern und sich selbst verzeihen."

Belletristik-Couch.de:
Erst im Alter von 40 Jahren haben Sie das Schreiben für sich entdeckt. Hat es einen bestimmten Auslöser dafür gegeben?

Kristina Hauff:
Ja, den gab es! Ich hätte es mir vorher nie zugetraut, einen Roman zu schreiben, obwohl ich in anderen Berufen bereits Texte erstellen musste und dazu immer gutes Feedback bekam. Mit 40 traf ich allerdings zum ersten Mal auf einen Motivationscoach - und ich kann vor diesen Menschen nur warnen! ;-) Sie können Dinge in uns freisetzen, von denen wir nichts ahnen. „Mein“ Coach wollte, dass ich als Ghostwriterin ein Buch über seine Motivationsmethode schreibe, und als ich mir das nicht vorstellen konnte, fing er an, seine geballten Motivationskünste auf mich anzuwenden. Mit dem Ergebnis, dass ich ihm sagte, ich könne sein Buch nicht schreiben, weil ich jetzt mein eigenes in Angriff nehmen würde (er war ziemlich platt!).

Belletristik-Couch.de:
Warum haben Sie als Handlungsort gerade die Elbauen im  Wendland gewählt?

Kristina Hauff:
Die Idee, einen Fluss eine zentrale Rolle im Roman einnehmen zu lassen, hatte ich gleich zu Beginn. Es musste ein größerer Fluss sein, idyllisch und gefährlich zugleich - so kam ich auf die Elbe. Ich suchte dann nach einem passenden Städtchen in Flussnähe, und ein Freund brachte mich auf die Idee, den Roman in Hitzacker spielen zu lassen (das im Roman nun „Harlingerwedel“ heißt). Ich bin hingefahren und habe mich in die Gegend verliebt. Es passte einfach alles zu meiner Vorstellung von dem Roman: die historischen Fachwerkhäuser des alten Ortskerns von Hitzacker, die idyllische Natur rundum, die Lage in Norddeutschland ...

Belletristik-Couch.de:
Für den Roman haben Sie vor Ort im Wendland und in Archiven recherchiert. Was genau hat Sie dabei besonders interessiert?

Kristina Hauff:
Gereizt hat mich der Gegensatz im Wendland: dünn besiedelt, aber schwer was los! Einerseits findet man die Flussauen, Landwirtschaft, Dörfer, andererseits hat die Benennung von Gorleben als Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ in den 70er Jahren die Idylle aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen. Ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen haben sich im Kampf gegen das Endlager vernetzt, Landwirte demonstrierten mit AKW-Gegnern, für Künstler wurde es ein attraktiver Ort. Diese bunte, kreative Mischung spiegelt sich in der Romanwelt wider: Drei meiner Hauptfiguren stammen aus dem Wendland, sie wuchsen mit dem Protest auf und sind durch ihn geprägt. Da ich selbst zwar mit der Anti-Atomkraft-Bewegung sympathisiert, aber nie selbst im Wendland demonstriert habe, habe ich mir Fakten und Inspiration aus den Archiven geholt. Sehr hilfreich war das großartig aufbereitete Gorleben-Archiv in Lüchow.

Belletristik-Couch.de:
Der Roman beinhaltet viele unterschiedliche Themengebiete wie den Umgang mit Verlust, das Treffen fataler Entscheidungen und das Leben mit den Konsequenzen, den Wert von Freundschaften und der Ehe und das Misstrauen einst verbundener Menschen untereinander. Wie ist es Ihnen gelungen, diese Vielschichtigkeit unter einen Hut zu bekommen?

Kristina Hauff:
Für mich ist es im Grunde nur ein einziges Thema, das all das Genannte zusammenfasst (mein Lieblingsthema): Es geht um Lebenslügen, und darum, was passiert, wenn uns diese um die Ohren fliegen. Es gehört viel Mut dazu, loszulassen und neu anzufangen. Um mit den gescheiterten Träumen abzuschließen, muss man sich eigenem Versagen und verdrängten Schuldgefühlen stellen. Aber noch wichtiger ist: Man muss das Verlorene betrauern und sich selbst verzeihen. Die Angst vor dieser Aufarbeitung ist oft so groß, dass es leichter erscheint, sich weiter an den Lebenslügen festzuklammern, gegen jede Vernunft - wie ein Zug, der einfach auf seinen Gleisen weiter und weiter fährt.

Belletristik-Couch.de:
In der Geschichte kommen unterschiedliche Figuren zu Wort. Warum haben Sie dieses Mittel der unterschiedlichen Erzählstimmen gewählt?

Kristina Hauff:
Meine Wahrnehmung ist so (übrigens auch im wahren Leben), dass es nie nur eine einzige Realität gibt. Jede Figur hat ihre eigene Sichtweise, und auch ihre eigene Wahrheit. Die Leser*innen müssen selbst herausfinden, welcher Figur sie am meisten vertrauen. Das kann sehr spannend sein.

Belletristik-Couch.de:
Ist Ihnen eine Figur besonders ans Herz gewachsen?

Kristina Hauff:
Definitiv! Edith, die alte, verbitterte Fährfrau, die nach der Erkrankung ihres Mannes an seiner Statt die Fähre von Harlingerwedel über die Elbe steuert. Ich hatte ihr in meinem Roman eine Statistenrolle zugedacht: Sie sollte Mara, die Fremde aus Kopenhagen, über den Fluss bringen; ein Fünf-Minuten-Auftritt in der ersten Szene mit drei Sätzen Text. Aber Edith hatte andere Pläne: Sie hat sich gnadenlos in meinen Roman gebombt und inzwischen ist sie meine Lieblingsfigur.

Edith hatte eine klare Vorstellung von ihrem Leben als Ehefrau und Mutter, und als die Realität nicht mehr mit dieser Vorstellung übereinstimmte, hat sie das ignoriert und den Kopf in den Sand gesteckt. Sie hat Gefühle einfach nicht zugelassen. Sie hasst den Fluss, doch sie nimmt ihr Los als Fährfrau an, um ihren Teil der Schuld abzubüßen.

All das wusste ich nicht. Auch nicht, dass Edith alle anderen Figuren genau kennt. Dass sie tief verstrickt ist in die Geschichte. Dass sie ein großes Herz hat. Und dass am Ende alle Fäden bei ihr zusammenlaufen.

Belletristik-Couch.de:
War Ihnen der zentrale Handlungsstrang von Beginn an klar, oder sind wesentliche Aspekte erst im Laufe des Schreibprozesses entstanden?

Kristina Hauff:
Bei diesem Roman ist Vieles erst beim Schreiben entstanden. Ich wusste, dass die Beziehungen der Figuren zu Beginn wie eingefroren sein sollten. Die Freundschaft der beiden Paare und die Ehe von Thies und Sophie standen vor dem Aus, und mir war klar, dass Mara, die mysteriöse Fremde, alles gehörig aufmischen und das Eis auf dem Hof brechen muss. Aber ich konnte mir noch nicht konkret vorstellen, wie sich die Dynamik durch Mara verändern wird. Ich musste die Figuren erst kennenlernen. Und manche weigerten sich dann auch, ihre zugedachte Rolle zu erfüllen (siehe Edith! ;-) )

Das Interview führte Sandra Dickhaus im Februar 2021.
Foto: © Bartholot

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