10.2012 Matthias Zschokke sprach mit Britta Höhne über namenlose Romanhelden, das Glück nicht en vogue zu sein, die Kunst des Siezens und über Nörgler, Schimpfer und Alleshasser. Außerdem über einen Rebellen im Leisen, der die Bustickets für seine Frau fälscht.

Eigentlich ist es für mich längst an der Zeit aufzuhören.

Belletristik-Couch:
Lieber Herr Zschokke, zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, ein paar Fragen zu Ihrem neuesten Roman "Der Mann mit den zwei Augen" zu beantworten. Viele Roman-Autoren müssen sich fragen lassen, wie viel von ihnen selbst in der Hauptfigur steckt. Wie sieht das bei Ihnen aus Herr Zschokke, welche Farben tragen Sie? Sind Sie auch durch und durch in "Sand" gekleidet?

Matthias Zschokke:
Ich trage meistens grün.

Belletristik-Couch:
Wenngleich Ihr Protagonist mit den zwei Augen nach außen hin langweilig, farblos erscheint, ist es doch er, der sich von der lauten, leuchtenden Masse abhebt – positiv abhebt. Der vielschichtiger ist, denkender, beobachtender und weniger oberflächlich, als die uniformierte Masse. Warum hat ausgerechnet Ihr Mann keinen Namen? Einen passenden hätten Sie bestimmt leicht gefunden und zudem viel Schreibfläche gespart, weil Sie nicht hätten umständlich umschreiben müssen.

Matthias Zschokke:
Ich habe ihn namenlos gelassen. Das lässt ihm Luft zu sein, was und wer er sein will.

Belletristik-Couch:
Ist es gerade en vogue, seine Protagonisten ohne Namen zu lassen? Sie sind nicht der einzige, der aktuell auf die Namensgebung verzichtet.

Matthias Zschokke:
Was en vogue ist, weiss ich nicht. Bislang hatte ich nie das Glück, es zu sein. Falls es diesmal anders sein sollte, würde es mich freuen. Schliesslich bemühe ich mich seit dreissig Jahren, etwas en vogue zu produzieren (stelle mir märchenhafte Auflagenzahlen dazu vor).

Belletristik-Couch:
Auch die Frau, mit der der Mann mit den zwei Augen sich dreißig Jahre lang eine Wohnung teilt, ist namenlos. Mehr noch, dass Paar siezt sich. War Ihnen das ein Anliegen, in dieser lauten, schnellen Zeit eine ganz leise Liebesgeschichte zu verfassen? Denn das ist sie ja irgendwie. Wenngleich auch versteckt?

Matthias Zschokke:
Das Siezen hat sich wie die Namenlosigkeit beim Schreiben ergeben und als hilfreich erwiesen. Es erklärt sich wie von selbst im Text, wirkt also nicht aufgezwungen, und bietet dann eine eigenartige Behutsamkeit im Umgang mit dem Stoff, den Figuren, den Geschichten. Vielleicht kennen Sie das auch: Leute, die Sie jahrelang gesiezt haben und nun plötzlich duzen sollen das ist schwierig; alles sperrt sich in Ihnen dagegen.

Belletristik-Couch:
"Ich sinnlose vor mich hin... und das mit Begeisterung!", gab der Satiriker Gerhard Polt in einem Interview im Magazin der Süddeutschen Zeitung bekannt. Polt spricht darin über die Langeweile, wie sehr er die schätze und ist sich sicher, dass es vielleicht nicht nur Wirtschaftskriege gibt, sondern auch "Kriege aus Langeweile". Ihr Protagonist bekriegt nicht seine Umwelt. Er lebt bescheiden, isoliert, verhält sich nur der Frau gegenüber nicht immer sehr charmant. Wie passt es da zusammen, dass so ein Herr Biedermann Gerichtsreporter ist? Erfreut er sich insgeheim am Schicksal der anderen, am aufgeregten Leben mit Schuld und Sühne? Oder stellt er beglückt fest, wie ruhig es in seiner eigenen Welt zugeht?

Matthias Zschokke:
Die Zeitungen leben davon, dass sie uns von Dingen berichten, die die Norm sprengen. Mein Protagonist kann dank dieser schlecht bezahlten Arbeit seine Miete bezahlen.

Belletristik-Couch:
Was trifft auf Sie zu: Nietzschefimmel oder Hegelknall? Hammer oder Bohrer? Oder gar beides?

Matthias Zschokke:
Weder Nietzsche noch Hegel. Das Denken dieser beiden erledige ich selbst, eher bohrend als hämmernd.

Belletristik-Couch:
Geboren sind Sie in Bern. Leben seit Jahrzehnten in Berlin. Zuweilen werden in Ihrem Roman Ortschaften benannt, nur die Hauptstadt bleibt Hauptstadt. Ist es Bern oder ist es Berlin – oder beides nicht?

Matthias Zschokke:
Habe ich die Hauptstadt nie namentlich erwähnt? Dann war`s wohl auch nicht nötig. Es geht schliesslich nicht um Bern oder Berlin in dem Buch, sondern wenn überhaupt um "Bern" oder "Berlin". Bevor ich nun mühsam die Anführungszeichen erklären muss, lasse ich`s lieber bei der Hauptstadt bewenden.

Belletristik-Couch:
Die Kuss-Szene, in der der Mann mit den zwei Augen, ich sage mal der Einfachheit halber, seine Frau küsst, erinnert an die Einspielung in der James L. Brooks-Filmkomödie "Besser geht`s nicht". Jack Nicholson drückt dabei seine Lippen fest und unbewegt auf die seiner Filmpartnerin Helen Hunt. Gefühllos offensichtlich, kalt und hölzern. Ihrem Protagonisten nicht ganz unähnlich, ein "Empfindungsalbino" sei er. Warum gibt es in Ihrem Roman keine warmherzige, romantische Liebe? Warum sind sexuelle Erfahrungen, schon im Jugendalter des Mannes mit den zwei Augen, mit Schmerz verbunden?

Matthias Zschokke:
Küssen und lieben ist weniger einfach, als im Feierabend-TV und in erfolgreichen Romanen immer vorgegaukelt wird. Wenn`s gelingt, ist es schön und wert, aufgeschrieben zu werden. Manchmal gelingt es nicht, das ist dann auch schön und wert aufgeschrieben zu werden.

Belletristik-Couch:
Sie verpassen dem Mann mit den zwei Augen ein biederes Äußeres. Er wirkt korrekt und unauffällig. Warum also fälscht er Bustickets für seine Frau? Fühlt er ihr sich doch verbundener, als Sie es offensichtlich scheinen lassen? Oder ist er gar ein Rebell im Leisen?

Matthias Zschokke:
Mag sein, es liegt bei meinen Protagonisten nicht so offen auf der Hand, aber was die beiden miteinander verbindet, ist meiner Meinung nach eindeutig eine innige und belastbare Liebe. Bustickets fälschen spart Geld.

Belletristik-Couch:
Sie spielen gerne an: Greifen Themen auf, verlassen sie wieder und kehren nicht dahin zurück. Es geht um Arbeit: "Gibt es nicht sogar ein geflügeltes Wort, das die befreiende Wirkung von Arbeit umflattert? Eins aus der Bibel? Oder aus der Kriegsphilosophie?" Testen Sie das Wissen Ihrer Leserschaft?

Matthias Zschokke:
Literatur, in der alles auserzählt wird, langweilt mich oft. Ich mag, wenn sie mich mitdenken lässt, wenn die Sätze mehrere Ebenen enthalten, wenn ich als Leser selbst entscheiden darf, ob ich etwas lustig finde oder traurig, wenn eine Tasse nicht festgeschrieben eine weiße von Ikea ist, sondern wenn ich sie mir aus Meissner Porzellan oder Bakelit oder heiß, direkt von einer italienischen Kaffeemaschine heruntergeholt, vorstellen kann. Ich mag, wenn das Aufgeschriebene mehr enthält als das, was da steht.

Belletristik-Couch:
Auch spielen Sie mit Klischees ("Wer wenig Geld verdient ist faul"), sprechen den Koran an, erzürnen sich über Mietwucher, prangern Kindermissbrauch im jesuitischen Internat an: Ihr sandfarbener Herr Namenlos ist vielseitig interessiert, befasst sich mit dem römischen Kaiser Nero und dem römischen Historiker und Senator Tacitus, mit Wahrheit und Lüge, mit der Routine des Lebens, mit sich selbst. An Kritik mangelt es dem Mann mit den zwei Augen nicht. Letztendlich stellt er fest: "Unser Problem ist, keins zu haben." Ist Ihr Roman ein Appell an all jene Nörgler, Schimpfer und Alleshasser, das Leben mal etwas gelassener zu sehen? Runter zu kommen von dem hohen Ross, seinen eigenen Weg mehr zu verfolgen, als nur darüber zu tratschen, was die Nachbarn machen, gefallen zu müssen?

Matthias Zschokke:
Was uns der Autor mit dem Ganzen sagen wollte? Keine Ahnung. Wüsste ich`s in weniger Worten zu sagen oder könnte es gar zusammenfassen, hätte ich`s in weniger Worten gesagt oder gleich zusammengefasst.

Belletristik-Couch:
Sie müssen an Ihrem Profil nicht mehr arbeiten. Nach unter anderem "Der dicke Dichter" (2005) und "Lieber Niels" (2011) ist Ihnen mit "Der Mann mit den zwei Augen" wieder ein großartiger Roman gelungen. Wie geht es weiter, Herr Zschokke?

Matthias Zschokke:
Sie haben recht: Eigentlich ist es für mich längst an der Zeit aufzuhören. So wie Rossini, der das Komponieren irgendwann an den Nagel gehängt und sich aufs "Tournedos à la Rossini"-Zubereiten konzentriert hat. Nur hatte der bis dahin ein paar Operndauerbrenner vorgelegt. Das kann ich von mir leider noch nicht behaupten.

Belletristik-Couch:
Herr Zschokke, vielen herzlichen Dank.

  

Das Interview führte Britta Höhne im September 2012.

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