07.2012 Jaroslav Rudiš gilt als Aushängeschild einer neuen Generation tschechischer Schriftsteller. Er sprach mit Lutz Vogelsang über seine Bücher, Musik und seine Wahlheimat Prag. Außerdem erklärte er, was die Toten Hosen mit seinem neuen Roman zu tun haben.

Das große Besäufnis und der Kater danach

Belletristik-Couch:
Jaroslav, du hast eben hier in Düsseldorf aus deinem neuen Roman "Die Stille in Prag" gelesen. Mit im Gepäck hast du die soeben auf Deutsch erschienene Graphic Novel "Alois Nebel". Wie bist du zum Schreiben gekommen?

Jaroslav Rudiš:
Es ist irgendwie zufällig passiert. Ich habe früher nie davon geträumt und habe nie besonders viel gelesen. Ich habe schon gelesen, aber mich hat eher Musik angesprochen. Eigentlich wollt ich eher Musiker werden. Leider bin ich, was die Musik angeht, ziemlich untalentiert. Richtiger Schriftsteller bin ich in Berlin geworden, wo ich einige Zeit als Stipendiat Germanistik und Journalismus studiert habe. Eigentlich bin ich Lehrer für Deutsch und Geschichte. Ich habe zwar im Gymnasium schon angefangen, hier und da etwas zu schreiben, aber mit richtigen Geschichten habe ich in Berlin angefangen. Ich habe sie einfach aufgesammelt. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis, Gott sei Dank.

Belletristik-Couch:
Und aus diesen Geschichten ist dann dein Debüt "Himmel unter Berlin" entstanden?

Jaroslav Rudiš:
Genau, ein Berlin-Roman in Kurzgeschichten. Eigentlich war "Himmel unter Berlin" nur ein Arbeitstitel. Mir schwebte eher ein Titel mit "Metro" oder "U-Bahn" vor, aber mein Verleger mochte den Titel auf Anhieb, gerade weil das ganze Buch unter der Erde in den Berliner U-Bahnen spielt. Plötzlich erschien das Buch und war ein großer Erfolg in Tschechien. Das ist jetzt übrigens ziemlich genau zehn Jahre her. Etwas später ist dann "Alois Nebel" entstanden. Mit dem Begriff "Schriftsteller" habe ich aber noch lange gekämpft. Das klingt so verstaubt. Eigentlich sind wir Tschechen Proleten. Unsere Elite wurde immer enthauptet, sei es durch die Nazis oder durch die Kommunisten. Die einzige Möglichkeit für Milan Kundera und die 68er war es, das Land zu verlassen. Das ist wirklich tief in uns verwurzelt. Ich hatte wirklich mit dieser Ironie zu kämpfen. "Schriftsteller" klang mir immer zu hoch und zu überheblich. Mittlerweile, nach fünf Romanen und einigen Theaterstücken, habe ich damit weniger Probleme.

Belletristik-Couch:
Das hört sich ja fast schon nach der sprichwörtlichen "Tellerwäscher-Karriere" an. Man schreibt ohne große Ambitionen und plötzlich entdeckt man sein Talent, trifft vielleicht genau den Zeitgeist.

Jaroslav Rudiš:
Ja, genau, man trifft den Zeitgeist. Wäre das Buch etwas früher oder später erschienen, hätte es vielleicht nicht funktioniert. In genau diesem Moment schien es, genau das zu treffen, wonach die Journalisten gesucht haben, und hat sehr gute Kritiken bekommen. Im selben Herbst kam von einer Freundin von mir, Petra Hůlová, ihr Debüt "Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe" heraus. Wir wurden dann beide als neue Generation tschechischer Schriftsteller richtig von der Presse gepusht. Beide Bücher spielen übrigens im Ausland, in Berlin und in der Mongolei, und zeigen unsere Heimat von außen. Weil wir so ungern unseren Teller verlassen, ist das für uns Tschechen schon eine Weltreise. Du brauchst also eine ganze Menge Glück. Ich kann im Moment vom Schreiben leben, auch deshalb, weil meine Bücher auf Deutsch erscheinen. Allerdings weiß ich nicht, ob das in zwei Jahren noch genauso sein wird. Aber ich habe vorher schon allerlei Jobs gemacht, und wenn es nicht funktionieren sollte, arbeite ich eben wieder als Journalist oder Übersetzer. Tschechien ist ein kleines Land, und du kannst als Schriftsteller nur überleben, wenn deine Bücher im Ausland erscheinen oder verfilmt werden. Damit hatte ich wirklich Glück.

Belletristik-Couch:
Apropos Verfilmung. "Alois Nebel" lief ja letztes Jahr sehr erfolgreich in den tschechischen Kinos. Nachdem er auf französisch schon angelaufen ist, soll er bald ja auch in die deutschen Kinos kommen.

Jaroslav Rudiš:
Ich war einen Monat nach Kinostart in Frankreich. Es ist ja eher ein Arthaus-Film, von daher ist es schon ein toller Erfolg, dass wir überhaupt im Verleih sind. Das gelingt nicht vielen tschechischen Filmen. Aber wir hatten in Frankreich eigentlich die besten Kritiken. Franzosen lieben ja Animation und Comics, und der Film ist dort wirklich gut angelaufen. In München feiern wir in einigen Wochen Deutschland-Premiere. Ich hoffe, dass er vielleicht noch dieses Jahr auch in die Kinos kommt.

Belletristik-Couch:
Dein jüngster Roman "Vom Ende des Punks in Helsinki" ist ja in Tschechien bereits erschienen. Wovon handelt das Buch?

Jaroslav Rudiš:
Auch auf Französisch ist es schon erschienen. Vor einem Monat war ich dort zur Premierenfeier. Ende dieses Jahres sollen Finnland und Polen folgen. Hoffentlich kommt es nächstes Jahr dann auch auf Deutsch. Es gibt zwischen meinem neuen Roman und meinem Erstling einen richtigen dramaturgischen Bogen und es dreht sich wieder viel um Musik. Die Hauptfigur ist ein deutscher Barkeeper in Helsinki, der sich an die 80er Jahre zurückerinnert, in denen er als Punk in Tschechien unterwegs war. Besonders an drei Tage, die er mit einer jungen Punkerin verbracht hat. Der zweite Erzählstrang des Buches ist ihr Tagebuch, das sie 1987 geschrieben hat. Gut, eigentlich habe ich es für sie geschrieben. [lacht] Übrigens freut mich ganz besonders, dass wir dieses Interview gerade in Düsseldorf führen. Jetzt kann ich es ja verraten: In dem Buch spielen die "Toten Hosen", die ja hier aus Düsseldorf kommen, eine wichtige Rolle. Im Rahmen eines Anti-Atom-Festivals 1987 haben die Toten Hosen in der Bierstadt Pilsen das erste offizielle Konzert im Ostblock gespielt, zu dem auch viele Punks aus der DDR angereist sind. Neben den Toten Hosen und den Einstürzenden Neubauten haben auch offizielle sozialistische Pop-Bands gespielt. Und natürlich endete es in einer Katastrophe, in einer wüsten Schlägerei mit der Polizei und der Verhaftung der Toten Hosen. Die wurden dann mit dem Bus an die bayrische Grenze gefahren und einfach aus dem Land geschmissen. Dieses Konzert, das ich ganz genau recherchiert habe, ist wirklich der Kernpunkt meiner Geschichte, wo sich die tschechische und die deutsche Erzähllinie treffen. Das Buch handelt von der letzten Punk-Generation und der Frage, was später mit diesen Leuten passiert ist; wie viel von dieser Kraft und Energie noch geblieben ist.

Belletristik-Couch:
In "Die Stille in Prag" lässt du eigentlich keine Fragen offen. Die vielen losen Enden werden konsequent zusammengeführt. Das Finale des Buches könnte nicht so vonstatten gehen, wenn nicht jede einzelne Figur dazu beitrüge.

Jaroslav Rudiš:
Fragt sich nur, ob das gut oder schlecht ist. [lacht] Eigentlich mag ich es, wenn für den Leser oder Zuschauer am Ende noch Fragen übrigbleiben, aber das Buch ist wirklich sehr geschlossen. Mir hat das viel Spaß gemacht, an der Struktur des Buches zu arbeiten, dieses Spinnennetz zu weben. Ich wollte einen Roman über Prag schreiben. Was sich 20 Jahre nach der Wende dort verändert hat. Zum Beispiel über den Massentourismus, der die Stadt auseinander gerissen hat. Normalerweise spielt die Geschichte Mitteleuropas in meinen Büchern eine große Rolle, in "Die Stille in Prag" wird das Thema nur angedeutet. Ich schreibe ja über eine Stadt, von der man fast sagen könnte, sie sei von der Geschichte beraubt worden. Das passiert natürlich in vielen Städten, München, Venedig oder jetzt gerade auch in Berlin. Zum Beispiel gibt es an der Prager Burg, der Hradschin, ein Stadtviertel, in dem zurzeit der Wende etwa 20,000 Menschen gewohnt haben; Von denen sind noch 5000 übrig. Die übrigen 15.000 haben ihre Häuser verkauft oder wurden enteignet. Abends, wenn die Touristen verschwunden sind, herrscht dort wirklich eine gespenstische Stille. Da gibt es dann fast kein Leben mehr, vielleicht noch ein letzter Laden, wo man seine Lebensmittel kaufen kann. Die zwei, drei Kneipen, die dort noch existieren, muss man auch als Einheimischer erst einmal finden. Das reale Leben wird komplett aus dem Stadtzentrum verdrängt. Übrig bleibt eine Art touristisches Disneyland. Darüber wollte ich schreiben. Und natürlich über die Liebe, über die Unmöglichkeit der Liebe und über die Einsamkeit, die auf uns alle wartet. Was das angeht, fahren wir alle im gleichen Zug.

Belletristik-Couch:
Du bist ein moderner Europäer, wie er im Buche steht, und bewegst dich in mehreren Ländern und in verschiedenen Sprachen. Das spiegelt sich auch in deinen Büchern wider. Prag, Berlin, Helsinki...

Jaroslav Rudiš:
...letztendlich sind meine Figuren aber auch nicht glücklicher als die Generation meiner Eltern, die quasi überhaupt nicht reisen durfte. Für sie beschränkten sich Ferienziele auf die DDR oder Ungarn. Ich bin aber wirklich ein Vertreter der Generation, die richtig Glück hatte. Ich war siebzehn, als die Wende kam, und hatte das Glück, bewusst mitzuerleben, was da passierte. Auf der anderen Seite waren wir auch die erste Generation, die begreifen musste, dass Kapitalismus und Demokratie nicht das gleiche sind. Wir dachten wirklich, mit Einführung des Kapitalismus sei die Freiheit gekommen. Eigentlich haben wir gedacht, es würde immer nur noch aufwärts gehen, und wir hätten eine Art "Utopia" erreicht. Das Prag der frühen 90er, das ich in "Die Stille in Prag" beschreibe war ein einziges Rock `n Roll-Konzert, ein riesiges Besäufnis. Die Krise, die wir jetzt gerade erleben, ist quasi der Kater am morgen danach.

Belletristik-Couch:
Ein Thema, das du immer wieder aufnimmst, ist "Bahn fahren". "Himmel unter Berlin" spielt komplett in Berlins U-Bahnen, der Lebensmittelpunkt von Alois Nebel ist der Kleinstadtbahnhof. Ist Bahnfahren für dich eine Metapher für das Leben?

Jaroslav Rudiš:
Ich denke, die Eisenbahn ist etwas sehr mitteleuropäisches. Zumindest wurde die Geschichte der letzten 150 Jahre sehr stark von der Eisenbahn geprägt. Nicht nur wirtschaftlich. In der Schlacht bei Königgrätz 1866 wurde die Eisenbahn erstmals zum Truppentransport eingesetzt. Alois Nebel lernt es von seinem Vater: Die Eisenbahn kann die größte Waffe sein! Die Weltkriege wären ohne Eisenbahn wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen sein, zumindest hätten sie anders ausgesehen. Mich hat immer fasziniert, wie sehr uns Züge und Fahrpläne verbinden; aber auch wie sie unsere Geschichte beeinflusst haben. Bei uns liegt das in der Familie. Mein Großvater Alois war Weichensteller auf einem kleinen Bahnhof im Grenzgebiet. Ich habe ihn leider nie kennengelernt, weil er schon 1960 gestorben ist. Er hat während des Zweiten Weltkrieges die Züge wirklich vorbeifahren sehen: Erst Wehrmachtssoldaten und Auschwitzgefangene, später dann die Russen und die vertriebenen Sudetendeutschen. Ich habe mich dann gefragt, wie es wohl aussieht, wenn so ein Typ durchdreht, wenn er realisiert, was er da wirklich gesehen hat. Die Idee, aus der Geschichte eine Graphic Novel zu machen kam dann von Jaromir99. Vor etwa zehn Jahren haben wir angefangen, daran zu arbeiten.

Belletristik-Couch:
Habt ihr damals auch schon zusammen Musik gemacht?

Jaroslav Rudiš:
Nein, unser gemeinsames Musikprojekt kam viel später. Damals waren wir einfach Freunde und ich war Fan von seiner Band "Priessnitz", einer der bekanntesten tschechischen Rockbands. Sie spielen übrigens viel in Grenzgebieten und verarbeiten diese Themen auch in ihren Liedern. Ich mochte seine Musik sehr und habe als Musikjournalist mehrere Interviews mit ihm geführt. Wir sind dann beide nach Prag gezogen, beide in den gleichen Stadtteil, ein Arbeiterviertel wie der Prenzlauer Berg früher einmal war. Da haben wir uns dann in der Kneipe "Zum ausgeschossenen Auge" getroffen. Der Name geht übrigens auf Jan Žižka zurück, einen brutalen hussitischen Heerführer, der in diversen Schlachten erst das eine, später auch das zweite Auge verloren hat. Mittlerweile kommen sogar öfters Leute in der Kneipe vorbei, um zu schauen, wo "Alois Nebel" entstanden ist.

Belletristik-Couch:
Die Figur "Alois Nebel" genießt in Tschechien Kultstatus. Stimmt es, dass Menschen den Bahnhof von Bílý Potok besuchen, nur um Fotos zu schießen?

Jaroslav Rudiš:
Das stimmt. Der Bahnhof dort heißt aber anders. Es gibt aber durchaus Indizien, um welchen Bahnhof es sich in "Alois Nebel" handelt. Die Geschichte spielt im Altvatergebirge, einer abgelegenen Region, die an den Schwarzwald erinnert. Vielleicht der meistvergessene Teil Tschechiens. Der Bahnhof, den wir vor Augen hatten, heißt Horní Lipová und liegt mitten in dieser märchenhaften, düsteren Gegend, wo alles möglich scheint. Jaromir99 kommt ursprünglich aus Jesenik, das ist ganz in der Nähe

Belletristik-Couch:
Wenn du wählen dürftest, würdest du lieber als Schriftsteller oder als Musiker den ganz großen Durchbruch schaffen?

Jaroslav Rudiš:
Bin ich jetzt eine Rampensau, oder nicht? Ich mache schon viele Lesungen, die sehr rockig sind. Ich denke häufig, ich habe erst einmal genug von Musik, und dann entdecke ich eine neue Band, die mich wieder packt. Dann merke ich immer: Das hört nie auf! Ich mag Musik wirklich sehr. In einem guten Buch geht es nicht nur um eine gute Geschichte, sondern auch um Gefühle. Genauso geht es in einem Rocksong nicht nur um Gefühle. Es ist toll, wenn man es – wie Lou Reed zum Beispiel – schafft, eine tolle Geschichte in einem Lied zu erzählen. Ich bin schon stark von Musik beeinflusst. Milan Kundera hat seine Bücher mit Symphonien verglichen – ich glaube, dass meine Geschichten eher Rocksongs sind. Hoffentlich gute!

Belletristik-Couch:
Letzte Frage: Im Moment läuft die Fußball-Europameisterschaft, und heute Abend spielt Tschechien gegen Polen. Interessierst du dich für Fußball?

Jaroslav Rudiš:
Ganz ehrlich? Schon ein bisschen. Wenn Welt- oder Europameisterschaften sind schaue ich mir das gerne an. Allerdings ist mir relativ egal, wer am Schluss gewinnt. Im Endeffekt ist Fußball spielen und Schreiben recht ähnlich: Du brauchst Technik, Kraft und Ausdauer, vor allem aber brauchst du eine gute Strategie.

Belletristik-Couch:
Jaroslav, ich danke dir sehr für dieses Gespräch.

  

Das Interview führte Lutz Vogelsang im Juni 2012.

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