09.2013 Helmut Kuhn sieht sich in der Tradition von Alfred Döblin und seinem epochalen "Berlin Alexanderplatz". Er sprach mit Andreas Kurth über Prekariat und Proletariat, Gehwegschäden, die einen verfolgen, und den Beruf des Begehers. Außerdem outet er sich als Herumtreiber und findet die Posse blödsinnig, die um die schwäbischen Zugewanderten veranstaltet wird.

Wir sind nicht in Kalkutta.

Belletristik-Couch
Helmut Kuhn, ist "Gehwegschäden" ein Buch über Berlin, oder über bestimmte Berliner? Oder vielleicht sogar eine Liebeserklärung an den Prenzlauer Berg?

Helmut Kuhn:
Ich würde mal sagen, es ist sicherlich eine Liebeserklärung an Berlin, an ganz Berlin, letzten Endes. Als ich mir diesen Topos hier rausgesucht habe, Mitte und Prenzlauer Berg, da hatte das bestimmte Gründe. Einmal, weil ich mich hier gut auskenne, da ich selber hier wohne. Und andererseits weil ich mir eingangs die Frage gestellt habe, mich hat ja dieses Buch "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin natürlich fasziniert, und ohne mich jetzt mit ihm vergleichen zu wollen habe ich mir irgendwann die Frage gestellt, wer wäre dieser Franz Bieberkopf, wenn er heute hier leben würde. Da musste ich feststellen, dass 1929 das so genannte Proletariat hier um den Alexanderplatz gelebt hat. Scheunenviertel und so, das ist ja bekannt, dass das keine so reiche Gegend war. Und wer lebt heute eigentlich hier? Und da bin ich darauf gekommen, das ist das Prekariat, neudeutsch so genannt, das ist anders als das Proletariat, meistens entweder junge Leute, aber auch ältere Leute, sehr gut ausgebildet, eigentlich alle gestandene Selbstunternehmer, Selbstausbeuter, was auch immer, Kreative, die aber heute zunehmend von der Hand in den Mund leben, und sich im Netz mit irgendwelchen virtuellen Brosamen rumschlagen. Und was machen diese Leute eigentlich? Wäre Franz Bieberkopf nicht vielleicht einer von denen?

Belletristik-Couch:
Also ist das Buch, wie zuweilen vermutet wird, durchaus eine Reminiszenz an Döblin?

Helmut Kuhn:
Ganz bestimmt, auf jeden Fall.

Belletristik-Couch:
Die Gehwegschäden ziehen sich als roter Faden durch das Buch. Was wollen Sie den Lesern damit signalisieren?

Helmut Kuhn:
Mir ist das Schild irgendwann mal aufgefallen. Es springt einen nicht völlig an, aber wenn man es einmal bemerkt hat, dann stellt man fest, dass es wirklich an jeder Ampel auftaucht, an jedem Schild und in jeder Straße. Es gibt keine Berliner Straße, also vielleicht in Zehlendorf zwei oder drei, aber in Mitte, Prenzlauer Berg, Wedding, egal wo, jede Straße hat mindestens zehn dieser Schilder. Die hängen also überall, an allen möglichen Wirtsschildern sozusagen, das hat natürlich einen juristischen Background. Also bitte lieber Bürger, wenn Du hier langgehst und Dir ein Bein brichst, dann zahlen wir nicht. Das bedeutet aber gleichzeitig auch, dass alle Bürgersteige brüchig und kaputt sind, und in der letztendlichen Konsequenz bedeutet es: Wir machen hier nichts mehr, wir haben resigniert. Und das finde ich einfach ein schönes Sinnbild für die Gesellschaft. Es springt einen nicht so an, wir sind nicht in Kalkutta, nicht in Indien, aber es ist etwas fundamental kaputt, und es hat sich etwas verändert, nämlich der Boden auf dem wir uns befinden. Wir sind offenbar nicht mehr in der Lage, das zu reparieren oder in Ordnung zu halten, so wie wir das gewohnt sind. Und dann habe ich angefangen, das zu recherchieren, wer stellt eigentlich diese Schilder auf und unter welchen Kriterien? Und dann bin ich wirklich in diesen Ämter gewesen und darauf gekommen: Das darf doch gar nicht wahr sein, was da für ein Wahnsinnsrattenschwanz dranhängt. Das ist ja schon kafkaesk, diese Behörden, die da dranhängen, der Beruf des Begehers und so, das ist schon irre. Das ist ein Berliner Phänomen, das gibt es aber auch in Hamburg und anderen Städten. Nicht alle haben das, aber sehr viele, und Straßenschäden sind genau dasselbe. Und wenn wir uns mal überlegen, vor 20 Jahren sind wir nach Italien gefahren und haben uns darüber lustig gemacht, dass die ihre Straßen nicht in Ordnung halten können. Und nun sind wir heute selber da, aber niemand nimmt das wirklich wahr. Man regt sich zwar mal darüber auf, aber es wird nicht wirklich etwas geändert.

Belletristik-Couch:
Haben Sie tatsächliche Erlebnisse in Ihrem Wohnviertel Prenzlauer Berg in dem Roman verarbeitet – oder ist das alles ausgedacht?

Helmut Kuhn:
Da sind natürlich eine Menge tatsächliche Beobachtungen und Erlebnisse drin, das ist ja ganz klar. Da ist die ganze Stadt Material und ich sammle das regelrecht und verwende das. Ich bin auch selber ein ziemlicher Herumtreiber, muss ich zugeben, und bin einfach furchtbar gerne hier und da unterwegs, fahre auch viel mit dem Fahrrad herum und gucke. Es ist also viel Eigenerlebnis und vor allen Dingen auch tatsächlich recherchiertes. Thomas Franz ist deswegen im Buch auch ein freier Journalist, weil er dann zu diesem Prekariat gehört, und weil mir das als Autor auch erlaubt, in ganz andere Ecken noch hineinzuriechen und tatsächlich einen Grund zu haben, bestimmte Dinge zu recherchieren, wie etwa das Haus der deutschen Geschichte. Wenn der jetzt Architekt wäre oder so, dann würde er sich nur in einer ganz bestimmten Ecke herumtreiben. Und so kann er einfach ganz anders in diesen Kosmos Berlin hineinschauen. Ich hatte da schon einige Vorbilder, ist ja klar, "Der Mann ohne Eigenschaften", beispielsweise, und das musste natürlich eine Figur sein, die so ein wenig älter ist, ein bisschen ramponiert, aber auch die Möglichkeit hat, mit einem Beruf hier und da hinein zu schauen.

Belletristik-Couch:
Wie viel Helmut Kuhn ist in Thomas Franz denn enthalten? Wie autobiografisch ist der Roman nicht nur in den Erlebnissen, sondern in der Figur selbst?

Helmut Kuhn:
Da gibt es so ein schöne Standardantwort, 25 Prozent, suchen Sie sich aus, welche.

Belletristik-Couch:
Mit der ich natürlich nicht zufrieden bin.

Helmut Kuhn:
Natürlich ist da vieles von mir selber drin, weil ich auch Journalist war, oder es im weitesten Sinne noch bin. Ich weiß, wie das ist, wenn man sich als Freier durchschlagen muss. Gerade in Berlin, mit wachsendem Konkurrenzdruck und so weiter. Ich sehe das tagtäglich um mich herum, ich habe in meinem Bekanntenkreis viele Leute, die sozusagen, ohne dass das Wort jemanden wirklich faszinieren würde, aber die man unter das Prekariat subsumieren könnte, würde mich da vielleicht sogar selber drunter zählen. Und natürlich fließt viel Eigenerlebtes hinein, das ist klar.

Belletristik-Couch:
Passend zum Erscheinungsdatum des Buches hat Wolfgang Thierse die Debatte über Schwaben am Kollwitzplatz losgetreten. War das eine PR-Aktion für Ihr Buch? Oder präzise gefragt: Was halten sie als ebenfalls Zugewanderter von dieser Debatte?

Helmut Kuhn:
Ich finde die Debatte eigentlich blödsinnig, und es war auch eine ganze Weile nachdem das Buch erschienen ist natürlich keine PR-Aktion. Irgendwo ist es eine lustige Posse, und es war ja schon lange so, dass "die Schwaben" bestimmte Teile des Prenzlauer Bergs bevölkerten. Also ich glaube, als Alfred Biolek hierher gezogen ist an den Wasserturm, da habe ich dann gesagt: Na gut, okay, jetzt ist es eben so wie es ist. Die haben dann natürlich alle über diesem Kollwitzplatz die ganzen schönen Dachgeschosse. Und es gibt ja auch eine Szene in dem Buch, in der Thomas Franz diesen Markt am Kollwitzplatz besucht, und sich darüber aufregt, wie so ein offensichtlich zugezogenes, nicht mehr ganz junges Elternpärchen sich vor ihm an der Theke eines Standes für Käsecreme-Sorten aufbaut und alle 25 Sorten mit einer brachialen Geduld und einem Egoismus durchprobiert, ganz egal, wie lang die Schlange hinter ihnen ist. Das sind ja auch genau diese Leute, die auch Thomas Franz da aufs Korn nimmt. Da entstehen aber tatsächlich jede Menge Parallelwelten. Also auf der einen Seite haben wir auf dem Prenzlauer Berg oder in Mitte oder im Wedding oder auch in Neukölln diese zugereiste Schickeria, oder doch relativ saturierte Bio-Gemüse-Gemeinde. Andererseits aber tatsächlich dieses wachsende Stadt-Prekariat von Leuten, die einst in Lohn und Brot standen, eine gute Ausbildung haben, und nun nicht mehr wissen, wie sie klarkommen. Oder junge Leute, diese Generation Praktikum, die sich von einem Projekt zum anderen durchschlägt, und deren Eltern sozusagen noch die ratlosen Verfechter des Wirtschaftswunders sind, und die ihre Sprößlinge bis ins zarte Alter von 40 sponsern müssen, bis sie endlich mal irgendwo unterkommen. Und genau diese Mischung macht es, und da erlebt man schon viele Dinge, wo die Menschen einfach Angst haben sich zu outen, zu sagen: Ja, es gibt eine Armut, auch wenn sie relativ ist. Wie gesagt, wir sind nicht in Indien, aber es gibt eine relative Armut, und das merkt man, und die Menschen haben Schiss, das auch zuzugeben. Man hat diesen Nimbus, und man versteckt sich dann eher. Und das existiert parallel zu diesen "Schwaben".

Belletristik-Couch:
Verraten Sie uns zum Abschluss ein wenig über Ihr nächstes Buch?

Helmut Kuhn:
Gerne. Ich schreibe einen Roman über das Leben meiner Großmutter. Die ist jetzt 91, ich habe sie gerade nach Berlin in ein Altenheim bei mir um die Ecke geholt. Sie ist leider dement, ich habe sie aber über zehn Jahre aufgenommen, und bin gerade dabei, das auszuwerten. Ich beschäftige mich damit, und das ist etwas, woraus ich einen Roman machen werde, der vielleicht 2014 erscheinen wird.

Belletristik-Couch:
Herr Kuhn, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.

  

Das Interview führte Andreas Kurth im Februar 2013.

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