Gehwegschäden

  • Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt, 2012, Titel: 'Gehwegschäden', Seiten: 443, Originalsprache
Gehwegschäden
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Andreas Kurth
851001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2012

Momentaufnahme eines gesellschaftlichen Biotops

Thomas Frantz ist Journalist, Schach-Boxer und Wahl-Berliner. Und bei seinen unsteten Streifzügen durch die brodelnde Hauptstadt ist er auch ein ruheloser Chronist und Beobachter. Zuweilen ist er aber auch Akteur, und der eine oder andere Auftrag einer Zeitung treibt ihn immer wieder zu neuen Themen und Erkenntnissen. Ausgangspunkt ist immer wieder der Kiez rund um die Schönhauser Allee, die Nord-Süd-Achse im westlichen Prenzlauer Berg. Dort trifft Frantz typische, skurrile und auch Figuren mit einer ganz eigenen Geschichte. Helmut Kuhn lässt seinen Protagonisten schier endlos Episoden aneinander reihen, um so vor allem ein Bild dieses Stadtteils und seiner Bewohner zu zeichnen. Es gibt aber auch Ausflüge in den Westen der Stadt, die das grandiose Panorama aber nur ergänzen, keinesfalls abrunden.

Der Titel des Buches zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman, am Ende seiner Abschnitte fügt der Autor jeweils Ausführungen über die entsprechende Beschilderung in den Berliner Bezirken ein. Aus der geradezu massenhaften Warnung von derlei "Gehwegschäden" zieht Kuhn die Schlussfolgerung, dass es sich hierbei um ein Eingeständnis der Kapitulation handelt. Ob man dem als Leser wirklich folgen will, scheint für mich eher zweifelhaft. Das vom Autor so ausführlich beschriebene Schachboxen gibt es in dieser Form übrigens wirklich. Ein Sinnbild des Überlebenskampfs in einer zunehmend prekären Gesellschaft daraus zu machen, ist eine weitere These des Autors, über deren Sinnhaftigkeit man in Ruhe nachdenken muss.

Überhaupt muss der Leser über vieles, was ihm hier in einem Lebensabschnitt des ruhelosen Chronisten präsentiert wird, gründlich nachdenken. Man kann diesen Roman aus vielerlei Perspektive sehen. Ob das Buch eine Reminiszenz an Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" ist, mögen künftige literaturwissenschaftliche Oberseminare klären. Die Ähnlichkeit in Aufbau und Erzählweise ist vorhanden, hat aber für die Frage, wie unterhaltsam "Gehwegschäden" ist, in meinen Augen keinerlei Relevanz. Zunächst ist das Buch für mich eine – wenn auch höchst ungewöhnliche – Liebeserklärung an die Stadt Berlin, zumindest an die beschriebenen Stadtteile. Denn bei aller einfließenden Kritik, die Kuhn seinen Protagonisten äußern lässt, ist doch deutlich, dass ihm die Mischung in dieser Stadt irgendwie gefällt. Hier gibt es vieles, was man in anderen Metropolen so nicht finden dürfte. Und so ist die Stadt mehr als eine Kulisse für das Leben ganz unterschiedlicher Menschen-Typen.

Das Buch könnte auch kräftig autobiographisch gewürzt sein – nur der Autor kann darüber Aufklärung geben. Auf jeden Fall ist es ein überaus gesellschaftskritischer Roman, aber auch die Menschen in den geschilderten prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen bekommen unterschwellig ihre Kritik ab. Wie sein Vorbild Döblin fügt der Autor etliche Werbesprüche, technische Beschreibungen und biographische Versatzstücke in seinen Text ein, was dem Buch eine besondere Prägung gibt.

Seine Bewunderung für den originären Hauptstadt-Dialekt zeigt Kuhn, indem er einen Bauhistoriker dem Journalisten Frantz die wechselvolle Geschichte des einstigen Kaufhauses Jonas erläutern lässt – in breitem Berlinerisch. Die jüdischen Besitzer wurden von den Nazis enteignet und vertrieben, und nach der Reichsjugendleitung fand die Parteiführung der SED in dem Gebäude ein Domizil. Nun wird es von Investoren aus London – die als Heuschrecken charakterisiert werden - zum Luxus-Club umgebaut. Der Streifzug des Journalisten mit dem Historiker durch die Baustelle in dem entkernten Haus an der Torstraße liefert wieder einiges zum Nachdenken. Es geht laut und chaotisch zu, vieles ist provisorisch, noch mehr war schon in früheren Zeiten auf Imponieren und Luftschloss-Bauerei ausgelegt. Otto Grotewohl, vorher SPD-Vorsitzender in der sowjetisch besetzten Zone, musste aus seinem Büro auf den Friedhof blicken. Wilhelm Pieck, vor der Zwangsvereinigung zur SED noch KPD-Chef in der Zone, hatte einen schönen Ausblick auf den Alexanderplatz. Mit diesem Detail wird gezeigt, wie subtil so manches ablief in der Zeit nach Kriegsende.

Die Streifzüge und Erlebnisse durch den Kiez hat Kuhn in Abschnitte untergliedert. Ist-Zustand, Hoffnung, Verzweiflung, Furcht, Überheblichkeit, Zorn, und am Ende dann Wut. Ob sich daraus eine Gleichung machen lässt, ist eine weitere These des Autors, die der Leser für sich selbst überprüfen und beurteilen muss. Helmut Kuhn hat auf jeden Fall fesselnde und witzige Beschreibungen der vielfältigen sozialen Brüche seiner Generation und seiner Bildungsschicht aneinander gereiht. Als exemplarisch und besonders kraftvoll ist der Sturm der entfesselten Konsumenten auf das neue Kaufhaus Alexa zu nennen. Es gibt ein richtiges Hauen und Stechen, weil Menschen aller Schichten und Einkommensklassen die Schnäppchen in dem neuen Konsum- und Technik-Tempel erhaschen wollen. Mit seinen Freunden ist Thomas Frantz mitten im Geschehen und lässt sich von der Welle mitreißen. Eine wahrhaft köstliche Episode.

Aber da sind auch seine Besuche in Wettbüros, Swinger-Clubs, Szene-Kneipen, bei den Kabbalisten und anderen Orten. Und immer gibt es neue "Aha"-Erlebnisse, und auch das eine oder andere "déja vu". Man kann das ganze Buch als soziologische Analyse lesen, als Momentaufnahme einer Generation und eines gesellschaftlichen Biotops, oder eben als Berlin-Roman der besonderen Art. Es wird nicht verwundern, dass mir das Buch gut gefallen hat – auch wenn es Passagen gab, die ich entbehrlich fand. Ich bin auch Journalist, also Beobachter und Chronist. Zudem gehöre ich der gleichen Generation an wie der Autor. Und nicht zuletzt bin ich unbelehrbarer Berlin-Fan. Die Topographie der Kieze zwischen Schönhauser Allee und Alexanderplatz ist mir bekannt, teilweise sogar vertraut. Aber auch ohne diese Voraussetzungen kann man das Buch als echtes Lesevergnügen genießen. Und etliche der Untiefen werden sich erst bei der zweiten oder dritten Lektüre erschließen. Es lohnt sich also.

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