09.2013 Gisa Klönne sprach mit Romy Fölck über ihren Familienroman "Das Lied der Stare nach dem Frost", über Moral und Schuld eines Pfarrers im Dritten Reich, über moderne Traumaforschung und über die Erfahrungen der Autorin, Teil einer deutsch-deutschen Familie zu sein.

Ich bin mit diesen Geschichten groß geworden.

Belletristik-Couch:
Frau Klönne, nach fünf sehr erfolgreichen Kriminalromanen nun ein deutsch-deutscher Familienroman. Wie kam es dazu?

Gisa Klönne:
Mir war immer klar, dass ich nicht nur Kriminalromane schreiben würde, wobei "nur" nicht abwertend gemeint ist. Aber nach fünf Kriminalromanen mit Judith Krieger war für mich die Zeit dringend gekommen, dass ich was anderes machen wollte, weil ich mich nicht einfach nur wiederholen will. Dieser Stoff des Familienromans ist autobiografisch inspiriert. Ich habe gewissermaßen mein ganzes Leben dafür recherchiert. Schon mit der Taufe fing das an. Ich bin ja Teil einer deutsch-deutschen Familie, sprich einer durch die Grenze jahrzehntelang geteilten Familie. Wie Rixa, die Heldin in meinem Roman, bin ich Enkelin eines Mecklenburger Pfarrers. Zum ersten Mal in der DDR war ich im Alter von drei Monaten, weil mein Großvater mich taufen sollte. Wir kamen aus dem Westen mit Einreiseantrag. Und dann wurde ich als Kind zur Schmugglerin gemacht. Unten hinein in den Kinderwagen kamen der Braten, der Kaffee, die Schokolade. Alles, was man so brauchte, um eine Party zu feiern. Ich kam gerade noch so auf der Matratze zu liegen, ohne rauszufallen. So fing das an. Ich bin mit diesen Geschichten groß geworden. Ich liebte auch die Landschaft Mecklenburgs.

Belletristik-Couch:
Das merkt man beim Lesen!

Gisa Klönne:
Ja, das merkt man sicher diesem Buch sehr an. Auch das Geheimnis, was diese Landschaft ausstrahlt, dieses Dunkle, Stille.

Belletristik-Couch:
Das Melancholische…

Gisa Klönne:
Genau. Das schwang auch von jeher in allen Erzählungen meiner Verwandten mit. Wir haben bis heute regelmäßige Familientreffen. Und vor einigen Jahren steckte mir ein Onkel dann ein paar Briefe zu. Eine Korrespondenz aus den Jahren 1944/45, feinste Sütterlin-Handschrift auf ganz dünnem, fast morschem Papier. Vergilbt und brüchig. Ich war natürlich neugierig und habe mir nach und nach beigebracht, die Sütterlin-Handschrift zu entziffern. Und ich fand den Inhalt so spannend. Da schrieb jemand, der eigentlich einmal an Hitler, an ein Deutschland geglaubt hat, der immer Kommunisten bekämpft hat, weil sie gegen die Religion waren, also ein deutscher Pfarrer wie es ganz viele gab. Jemand, der sich schuldig gemacht hatte, indem er erst einmal in der Partei war, in der NSDAP, sogar in der SA. Und der dann einen Wandel vollzieht, als er merkt, wie schlimm das eigentlich ist, was die Nazis tun, der sich noch der Bekennenden Kirche anschließt. Und dann der große Zusammenbruch. Alles, woran er geglaubt hat, fällt weg, zerbricht. Deutschland liegt in Trümmern und die Russen kommen in dieses Land. Und genau das wurde für mich zum Ausgangspunkt, als ich mit diesem Roman begann. Ich wusste sofort, da ist ein Romanstoff drin verborgen, eine Familiengeschichte, die ich erzählen will.

Belletristik-Couch:
Es geht im Roman um Moral und Schuld. War dieses Thema nicht schwierig, da wir einer Generation entstammen, die das Dritte Reich selbst nicht erlebt hat?

Gisa Klönne:
Als Schriftstellerin ist es ja meine Aufgabe, mich in fremde Biografien und Wirklichkeiten hineinzuversetzen. Ich habe bei diesem Roman aber sehr lange gebraucht, um eine Sprache zu finden und mir darüber klar zu werden, wie ich diese Geschichte eigentlich erzählen will. Und habe mich dann dafür entschieden, dass es zunächst einmal die Gegenwartsebene gibt, die Wirklichkeit der Enkelin Rixa Hinrichs. Sie ist die Hauptfigur. Sie rollt die Geschichte ihrer Familie neu auf, weil ihre Mutter in Mecklenburg einen tödlichen Unfall gehabt hat, an genau derselben Stelle, wo Jahre zuvor Rixas Bruder verunglückt ist. Und nach und nach merkt Rixa, dass die Wirklichkeit, von der sie gedacht hat, dass sie die Wirklichkeit der Familie ist, gar nicht die Wahrheit ist. Und sie geht immer tiefer zurück in die Vergangenheit, versucht anhand von Briefen, Fotos, Erzählungen zu rekonstruieren, was da eigentlich war. Denn sie erkennt: Das, was in der Vergangenheit passiert ist, beeinflusst sie noch heute. Es gibt ein Tabu, warum sie es mit ihrer Musik nicht schafft, auf große Bühnen zu gehen. Und erst, wenn sie weiß, was sie eigentlich hindert – und das liegt in der Vergangenheit – kann sie sich davon befreien. Nachdem diese Handlung stand, habe ich lange überlegt: Wie stelle ich diese Vergangenheit dar? Ich habe dann entschieden, dass ich den beiden Großeltern eigene Stimmen gebe und die Geschichte dieser Familie aus der Vergangenheit in die Gegenwartsebene eingestreut nacherzähle, von 1915-49 in eigener Sprache. Es war durchaus schwierig, den richtigen Ton für diese Szenen zu finden. Mir haben dann Briefe und Dokumente geholfen, wie z. B. ein kleines schmales Bändchen aus dem Jahre 1912, das ich im Pfarrhaus meiner Großeltern fand, das heißt »Wir Pfarrfrauen«. Es ist aber mitnichten emanzipatorisch, sondern enthält zwölf Regeln, wie eine gute deutsche Pfarrfrau zu sein hat. Darin gibt es dann so herrliche Sätze wie »Das Pfarrhaus ist eine Burg auf dem Berg, es hat gläserne Wände.« Soll heißen, man muss schon auf Erden sehr gut sein, sehr vorbildhaft.

Belletristik-Couch:
Das war ja damals ein hartes Leben im Pfarrhaus.

Gisa Klönne:
Ein sehr hartes Leben! Dieses ländliche Leben, diese Moral und die Misshandlungen. Also heute würde man sagen »Schwarze Pädagogik«. In den Vergangenheitsszenen habe ich diesen Duktus und diese Moral zum Teil übernommen und zugleich darauf geachtet, dass diese dennoch nicht betulich wirken, sondern eher zeitlos. Wenn man genau liest, merkt man zum Beispiel, dass die Vergangenheitsszenen in der Gegenwart erzählt sind. Ich habe dem Buch ja ein Motto vorausgestellt. Es heißt: »Wir sind Erinnerung«. Das Gedächtnis, die Erinnerung als Teil der Persönlichkeit. Aber ich finde, wenn man weiter denkt, ist es so, dass alle Menschen, die uns verbunden sind, auch wenn sie tot sind, in unseren Erinnerungen weiter leben. Und uns quasi immer noch etwas zuflüstern.

Belletristik-Couch:
Thema moderne Traumaforschung. Wie haben Sie da recherchiert?

Gisa Klönne:
Ich habe mich damit schon seit einigen Jahren beschäftigt. Und auch in meinem letzten Judith-Krieger-Roman »Nichts als Erlösung« geht es darum, wie sich Traumata weiter vererben. Ich fand es sehr spannend. Man spricht ja heute auch von Kriegskindern und Kriegsenkeln. Also Kriegskinder sind die, die im Krieg bis 1945 noch Kinder waren, manchmal auch bis 1949/50 Geborene, die eigentlich bewusst vom Krieg nichts mitbekommen haben und die doch sehr von ihm geprägt sind, obwohl sie oft ein Leben lang nie darüber gesprochen haben. Und im Alter brechen diese Traumata dennoch auf. Und das ist auch etwas, was die moderne psychologische Traumaforschung als sehr typisch bezeichnet: Traumatische Erlebnisse brauchen manchmal Jahrzehnte, bis sie bewusst erinnert werden. Zum einen, weil Traumatisierte oft in eine Art Überlebensmodus schalten, der die Gefühle ausblendet, zum anderen, weil man im Alter verletzlicher wird und wieder mehr Zeit hat, sich zu erinnern. Und in dieser Traumaforschung hat man auch herausgefunden, dass sich Dinge in Familien weiter vererben, auch dann, wenn sie nicht ausgesprochen werden. Gerade dann haben sie sehr viel Macht.

Belletristik-Couch:
In Ihrem Buch kann Rixa nicht die Musiker-Karriere machen, die sie immer angestrebt hat.

Gisa Klönne:
Genau, es gibt etwas in der Familie, das sie hindert. Es gibt ein Tabu: »Du darfst mit dieser Musik nicht auf große Bühnen gehen«. Rixa hat ja auch ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, was sie dann nach und nach postum auflöst, und ein Verständnis für die Mutter gewinnt. Sie hat immer nur gesehen, dass die Mutter nicht will, dass sie diese Musik macht. Sie hat das Warum nicht verstanden und sich aufgelehnt und hat trotzdem gehorcht.

Belletristik-Couch:
Sie stammen aus einer mecklenburgischen Pfarrerfamilie. Der Roman ist, wie Sie sagen, autobiografisch inspiriert, ist aber kein autobiografischer Roman. Wie kann man da die Grenze ziehen?

Gisa Klönne:
Der Stoff mir natürlich sehr nah. Ich habe ja seit 2007 an diesem Buch gearbeitet, also über fünf Jahre. Es hat verschiedene Stadien durchlaufen, wie ich die Geschichte konstruiert, wie ich die Figuren erfunden habe. Ich wollte jedoch nie, dass jemand in meiner Familie sagt: »Ah ja, das bin ich!« Also habe ich mir auferlegt, dass die Figuren, die Geschichte und ihre Verhältnisse völlig erfunden sein müssen. Aber natürlich sind dennoch ein paar Anekdoten aus unserer Familie darin verarbeitet. Kleinigkeiten, die das Buch dann auch so lebendig machen.

Belletristik-Couch:
Zum Beispiel die Bahnfahrt zur Taufe...

Gisa Klönne:
Ja, genau, diese Bahnfahrt ist auch im Buch beschrieben. Und so wie Rixas Familie im Buch ist auch meine reale Familie sehr groß. Kinder die über zwei Jahrzehnte hinweg geboren werden – das war aber sehr typisch für viele Landpfarrerfamilien aus dieser Zeit. Ich weiß noch, dass mein Großvater es nie erlebt hat, all seine Kinder auf einmal zu sehen, denn als das Jüngste in den 40ern geboren wurde, war der älteste Sohn schon im Krieg und dann in Kriegsgefangenschaft. Und dann gab es auf einmal eine Grenze, da waren einige der Kinder schon im Westen und einer seiner Söhne dort ging zur Bundeswehr und durfte dann nie wieder in die DDR einreisen. Das war die Wirklichkeit, mit der ich aufgewachsen bin: Meine Onkel und Tanten, die im Osten geblieben waren, durften nicht ausreisen – wir aus dem Westen konnten nie alle gemeinsam einreisen. Erst als die Ostler allmählich ins Rentenalter kamen und es einen runden Geburtstag im Westen zu feiern gab, kamen erstmals alle Kinder meiner Großeltern zusammen. Aber da war mein Großvater schon tot, nur meine Großmutter hat das noch erlebt.

Belletristik-Couch:
Das wird ja auch thematisiert.

Gisa Klönne:
Ja, das wollte ich unbedingt übernehmen, weil es so typisch ist für diesen Wahnsinn der deutschen Teilung. Wer aber diese Figuren sind, wie sie heißen, wie sie handeln, wie sie zueinander stehen und was für eine Persönlichkeit sie haben, die ganzen Namen, das ist alles erfunden.

Belletristik-Couch:
Im Roman werden zwei sehr prägnante Epochen verwoben. 1915-49 und die Trennung der beiden deutschen Staaten bis in die Gegenwart. Hatten Sie nicht Angst, das Buch damit historisch zu überfrachten?

Gisa Klönne:
Absolut, ja! Aber ich bin ja nun mal keine Chronistin. Deshalb habe ich aus der Fülle der Fakten nur schlaglichtartig herausragende Ereignisse beschrieben. Und ich habe mich an Leitfragen orientiert. Mir ging es darum zu verstehen: Wie kann es sein, dass ein Pfarrer, der ja nun eigentlich für Frieden, für das Gute steht, dass der überhaupt ein Anhänger Hitlers werden konnte? Und dazu musste ich mir vergegenwärtigen, was der zuvor erlebt hatte: Den Ersten Weltkrieg, die Unruhen der Weimarer Republik, die Inflation... Ich musste mich reinversetzen in diese Zeit, den Zusammenbruch des Ersten Deutschen Reiches. Die Protestanten waren absolut preußisch und hatten auf einmal ihren Kaiser verloren. Sie standen also quasi im luftleeren Raum, das hat sie später für Hitler anfällig gemacht. Ich habe bei diesen Recherchen sehr viel verstanden über unser Land und habe dann exemplarisch Szenen geschrieben, die zu einer Biografie, zur Entwicklung einer Figur passten. So gibt es zum Beispiel eine Szene mit einer Bücherverbrennung. Es gibt eine Erste-Weltkriegs-Szene, wo der sehr junge Theodor, also der junge Pfarrer, als 18Jähriger an der Westfront überlebt.

Belletristik-Couch:
Wie kann man das recherchieren, dass solche Szenen so emotional beschrieben werden können? Hatten Sie die Möglichkeit, mit Zeitzeugen zu sprechen?

Gisa Klönne:
Ich habe Dokumente von Zeitzeugen gefunden, also Feldbriefe. Teilweise haben auch Leute etwas veröffentlicht, Lebenserinnerungen. Ich habe mir Fotos angeschaut, und daraus beim Schreiben wieder Bilder generiert, wie diese verbrannten Wälder, in denen schwarze Baumstämme wie Gerippe herumstehen. Ich habe überlegt: Wie hat das wohl gerochen? Und wie klang das auf so einem Schlachtfeld, wie war der Lärm von diesen ganzen Schützengefechten? Ich habe also versucht, mir das auf einer sinnlichen Ebene zu vergegenwärtigen.

Belletristik-Couch:
Ihre Romane sind unwahrscheinlich atmosphärisch. Wie leben Sie mit Ihren Figuren in der Zeit, in denen Sie Ihre Romane schreiben?

Gisa Klönne:
Phasenweise lebe ich sehr eng mit ihnen. Phasenweise lassen die mich gar nicht mehr los. Und dann schlafe ich schlecht und stehe nachts wieder auf und schreibe noch etwas auf. Oder beim Joggen fangen die Figuren an, mit mir zu reden. In anderen Phasen kann ich natürlich sehr wohl unterscheiden, wer ich bin und wer die Figuren sind. Und dann sind sie mir nicht so nah. Aber als ich endlich die passende Sprache für dieses Buch gefunden hatte, hatte ich noch ein halbes Jahr Zeit, es fertig zu schreiben und das war ganz schön viel Stoff. Diese Zeit war sehr intensiv.

Belletristik-Couch:
Sind Sie noch oft in Mecklenburg?

Gisa Klönne:
Ja, immer wieder. Teilweise war ich auch in diesen Jahren dort, als ich an dem Buch gearbeitet habe. Gerne auch mal im Winter, in dieser kalten Stille, obwohl es auch im Sommer bezaubernd ist.

Belletristik-Couch:
Wie geht es jetzt weiter? Krimi oder doch eher ein neuer Familienroman?

Gisa Klönne:
Ich weiß es noch nicht. Ich habe Ideen für beides. Ich fand es sehr befreiend, eine Geschichte auf eine ganz andere Art erzählen zu können, ohne Genre-Konventionen. Ich habe für beides Ideen. Und in den nächsten zwei, drei Monaten werde ich entscheiden, was ich als nächstes schreibe.

Belletristik-Couch:
Wenn Judith Krieger und Rixa Hinrichs sich treffen würden, würden sie sich gut verstehen?

Gisa Klönne:
Ich glaube, ja! Ich glaube, sie teilen etwas. Sie sind beide so eigene Charaktere, die sich niemandem anbiedern, die auch ganz gut allein sein können. Ich glaube, sie hätten auch einen ganz ähnlichen Musikgeschmack. Aber Rixa ist natürlich eine absolute Künstlerin, während Judith doch eher die Pragmatische ist mit ihrem Gerechtigkeitssinn, so was geht Rixa ab. Insofern, vielleicht würden sie keine besten Freundinnen werden, aber ich denke, sie hätten einen netten Abend zusammen.

Belletristik-Couch:
Dann wünsche ich Ihnen für alle weiteren Romanprojekte viel Erfolg! Vielen Dank für das Interview, Gisa Klönne!

  

Das Interview führte Romy Fölck im März 2013.

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