Überragendes Porträt einer deutschen Familie im Wandel der Zeit
Es ist die Hinterlassenschaft unserer Ahnen, die Geschichte des Deutschen Volkes im Dritten Reich oder während der Existenz zweier deutscher Staaten, welche Bibliotheken und Filmarchive füllt. Narben eines Volkes, die langsam abheilen aber wohl nie verblassen werden.
Als Gisa Klönne Briefe ihrer Familie aus den Jahren 1944/45 zugespielt werden, beginnt sie darin zu lesen. Und was sie liest, lässt sie nicht mehr los. »Da wusste ich, da ist ein Romanstoff drin verborgen, eine Familiengeschichte, die ich erzählen will«, schildert sie im Interview. Über fünf Jahre schreibt sie daran. Nun ist bei Pendo mit »Das Lied der Stare nach dem Frost« ein außergewöhnlicher deutsch-deutscher Familienroman erschienen, der autobiografisch inspiriert ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Rixa Hinrichs ist Musikerin und tingelt als Bar-Pianistin auf einem Kreuzfahrtschifft über die Meere. Fast meint man, sie sei vor ihrem Leben in Deutschland, vor ihrer Familie geflüchtet, die mit dem Unfalltod ihres geliebten Bruders zerbrochen scheint. Als sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erreicht, fliegt sie nach Berlin, wird ins winterliche Deutschland katapultiert, das für sie nur noch ein eisiger und dunkler Ort ist. Ihre Mutter ist bei einem Verkehrsunfall in Mecklenburg ums Leben gekommen, erfährt sie. Fast an derselben Stelle, an der vor Jahren ihr geliebter Bruder tödlich verunglückte. Rixa glaubt nicht an einen Unfall. Hat sich ihre Mutter umgebracht, weil sie über den Tod ihres Lieblingssohnes nicht hinwegkam? Denn: Warum war sie an einem Winterabend überhaupt allein auf dieser Straße in Mecklenburg unterwegs? Für Rixa wird die Suche nach der Antwort eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie; einer mecklenburgischen Pfarrerfamilie, die ein dunkles Geheimnis umweht, welches auch Rixa bis in die Gegenwart unbewusst traumatisiert. Sie weiß, dass sie nach Mecklenburg fahren und nach ihren Wurzeln suchen muss, um endlich aus dem Schatten ihrer Familie heraustreten zu können. Im melancholisch-schönen Mecklenburg, im verlassenen Pfarrhaus ihrer Großeltern, wird Rixa schließlich fündig.
Gisa Klönne, Jahrgang 1964, studierte Anglistik und Politikwissenschaften und arbeitete als Redakteurin und freie Journalistin. 2005 erschien ihr erster Kriminalroman »Der Wald ist Schweigen«. Mittlerweile ist sie eine der erfolgreichsten deutschen Krimiautoren, die mehrfach für ihre Kriminalromane um Judith Krieger ausgezeichnet wurde. Mit diesem Roman zeigt sie sich von einer ganz neuen Seite. Und dennoch bleibt sie sich treu. Gewohnt atmosphärisch und exzellent recherchiert, schildert sie die Geschichte einer jungen Frau, die eine alte Schuld ihrer Vorfahren spürt, sie jedoch nicht greifen kann. Schlaglichtartig führt Gisa Klönne in einer zweiten Zeitebene auch die Geschichte der Vorfahren Rixas ein, einer Pfarrersfamilie zwischen Erstem Weltkrieg und den Nachkriegsjahren bis 1949. Sie seziert die Gedanken der Figuren, zeichnet sie lebendig und dicht, gleicht ihre Sprache und Sinne dieser Epoche an, so dass schon allein diese Geschichte einen ungeheuren Sog entwickelt.
Fragen tauchen auf, sobald man in die Geschehnisse eintaucht. Ist die heutige Moral, das Schuldverständnis der Nachkriegsgeneration mit dem harten Leben der Menschen in der damaligen Zeit überhaupt in Einklang zu bringen? Wie haben sich der Glaube und der strenge Protestantismus auf das Überleben und die Existenz dieser Familie ausgewirkt, wie auf die Erziehung der Kinder? Viele Fragen werden beantwortet, andere aufgeworfen, irrlichtern durch das Werk, bleiben im Kopf. Durch die Augen des Pfarrers Theodor und seiner Frau Elise wird eine Zeit lebendig, die sich durch ihre historischen Ereignisse bis ins Heute fortwirkt. Das Gelesene wühlt auf, klingt nach.
Doch auch das Leben der von einer deutsch-deutschen Grenze geteilten Familie wird thematisiert. In eingewobenen Anekdoten schreibt Gisa Klönne über den Wahnsinn, ein Volk und seine Familien zu trennen. Und darüber, wie alte Traumata in einer Familie weitervererbt werden. Wie Kinder mit den Schatten der Vergangenheit ihrer Ahnen leben, bis alte Wunden aufreißen oder geheilt werden.
Deutlich spürt man auch die Verbundenheit der Autorin zu Mecklenburg. Denn sie liebt » …das Geheimnis, was diese Landschaft ausstrahlt, dieses Dunkle, Stille.« Durch die eingängigen Landschaftsbeschreibungen, vor allem in der kalten Jahreszeit, und die berührend poetische Sprache Klönnes entsteht eine leise Melancholie, die dem Roman einen ganz eigenen Charme verleiht. Jeden Satz lässt man sich gern auf der Zunge zergehen, um den Genuss zu verlängern.
»Das Lied der Stare nach dem Frost« ist ein Roman, bei dem man die Figuren schon vermisst, bevor man ihn ganz ausgelesen hat. Selten hallt ein Werk so intensiv nach. Gisa Klönne in Höchstform!
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