Baumgartner

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Thomas Gisbertz
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Belletristik-Couch Rezension vonDez 2023

Ein leiser Roman über Einsamkeit und Verlust, aber auch über die Kraft der Erinnerung und neu gefundener Lebensfreude.

„Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann“, klagte einst der Princeton-Professor Seymor T. Baumgartner über den Verlust seiner geliebten Ehefrau Anna, die bei einem Badeunfall ums Leben kam. Das ist nun fast zehn Jahre her - und Baumgartner scheint sich immer mehr dem Leben zu entfremden. Hinzu kommt ein bewusster geistiger Verfall, der immer offensichtlicher wird. Früher hieß so etwas Altersschwäche, heute Demenz. Aber noch kann und will der mittlerweile über siebzigjährige emeritierte Phänomenologe, der sich dem Schreiben philosophischer Bücher und in letzter Zeit seinen Jugendreminiszenzen widmet, nicht so einfach geschlagen geben.

Er unternimmt kleine geistige Exkursionen in seine Vergangenheit, in denen er sein Leben Revue passieren lässt: aufgewachsen als jüdisch-amerikanischer Sohn in kleinbürgerlichen Verhältnissen, eine besondere Beziehung zu den Eltern und seiner Schwester, Collegeaufenthalt und Studium in Paris und seine erste Begegnung mit Anna, der Liebe seines Lebens. Sie fehlt ihm und gleichzeitig wollte er jahrelang alles tilgen, was ihn an sie erinnert. Bis zu einer merkwürdigen Begegnung, die so rätselhaft wie wichtig für ihn ist. Denn Baumgartner erkennt: Leben heißt auch Schmerz empfinden. Aber in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.

Amerikanischer Bestseller-Autor

Autor Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen „Im Land der letzten Dinge“ und der „New-York-Trilogie“. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.

Sechs Jahre nach seinem letzten Roman „4 3 2 1“ erscheint mit „Baumgartner“ sein vielleicht persönlichstes Buch, entdeckt man doch zahlreiche biografische Verbindungen und Überschneidungen der Protagonisten mit dem amerikanischen Autor. Das Ehepaar Seymor und Anna Baumgartner erscheint gemeinsam regelrecht als Alter Ego Austers - sowohl was dessen Arbeit als Schriftsteller als auch Sichtweisen betrifft. Vor allem aber ist Auster vor einigen Monaten an Krebs erkrankt und hat sich dadurch viel mit der Sterblichkeit beschäftigt. Vielleicht lässt gerade dies eine besondere Nähe zum Roman zu. Wenn Baumgartner zwischen Wut und Selbstironie, zwischen Schmerz und Liebe oder zwischen Angst vor der Endlichkeit und Freude auf das Jetzt schwankt, lässt dies den Leser nicht kalt. Der Roman berührt, weil er in seinem Ton niemals kitschig wird.

Nachdenklich und humorvoll

Wer denkt, Austers aktueller Roman sei ein zutiefst trauriges Buch, der irrt gewaltig. Der Amerikaner ist ein Meister des subtilen Humors.  So macht Baumgartner als Phänomenologe selbstredend den Sachverhalt seiner angeblich beginnenden Demenz auch an der Erscheinung seines offenen Hosenverschlusses fest. Auch dem Thema Schmerz begegnet Auster durchaus ambivalent, wenn sich der Protagonist gleich zu Beginn innerhalb kürzester Zeit die Hand verbrennt, das Knie und den rechten Ellbogen verletzt und beginnt, sich mit dem „Phantomschmerz-Syndrom“ zu beschäftigen und kurzerhand einen Essay über dieses verzwickte Körper-Geist-Rätsel schreibt.

Aber mit der nächsten Seite schlägt der Roman bereits wieder einen melancholischen, nachdenklichen Ton an. Wenn Baumgartner kurz nach Annas Tod oft vergisst, dass seine Frau nicht mehr da ist, oder wenn er mit ihr auf ungewohnte Weise spricht, weil Liebende über den Tod verbunden bleiben können, dann zeigt sich die große Macht der Liebe. Dies löst etwas in ihm aus. Es ist die Erkenntnis, gegen den Verlust und den Schmerz „anleben“ zu wollen.

Und weil Baumgartner weiß, dass wir die Welt durch Sprache wahrnehmen und strukturieren, beginnt er, seine Erinnerungen an Anna und seine Familie aufzuschreiben: über seine Beziehung zum stets undurchsichtigen Vater, der voller Stolz auf seinen Sohn blickte und viel zu früh verstarb, über seine Mutter, die unerschütterliche Trösterin und Beschützerin auf seinem langen Weg durch die Kindheit, und natürlich über Anna, dieses unverfälschte, direkte und spontane Mädchen, das ihm für immer den Kopf verdrehte. Wie mit seinen Büchern, die Baumgartner schreibt und dann lange beiseitelegt, um sie fertigstellen zu können, muss er auch Abstand zu seinem Leben gewinnen, um es richtig betrachten zu können. Erst dann kann das letzte Kapitel in der Saga S. T. Baumgartner beginnen - und das sorgt am Ende für mächtig Wirbel in seinem Leben.

Fazit

Ein Roman, bei dem existenzielle Themen wie Tod, Verlust, Einsamkeit und Verfall im Mittelpunkt stehen und der dennoch voller Leben ist. Auch weil Humor und Weisheit Teil der Erzählung sind. Bei Auster ist Erinnerung kein Hemmnis, sondern treibende Kraft und Ansporn. Die Endlichkeit bleibt, aber sie verliert ihren Schrecken. Auster beweist erneut, welch großartiger Romancier er ist.

Baumgartner

Paul Auster, Rowohlt

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