Chilenisches Nachtstück

  • Hanser
  • Erschienen: Januar 2007
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  • Barcelona: Anagrama, 2000, Titel: 'Nocturno de Chile', Seiten: 150, Originalsprache
  • München: Hanser, 2007, Seiten: 160, Übersetzt: Heinrich von Berenberg
  • München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 2010, Seiten: 160, Übersetzt: Heinrich von Berenberg , Bemerkung: Lizenzausgabe
Chilenisches Nachtstück
Chilenisches Nachtstück
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Sebastian Riemann
751001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2011

Kirche, Literatur und Diktatur

Ein junger Priester fasst den Entschluss sein Leben nicht nur der Kirche zu widmen, sondern auch der Literatur. Wie von Wunderhand geleitet findet er sogleich Zugang zu den gehobenen Kreisen, zu den Großen seiner Zeit, sein Aufstieg zu einem Star der Szene geschieht ohne viel Anstrengung und ohne Hindernisse, der junge Mann ist begabt und als Priester sowieso ein Paradiesvogel der unerwarteten Art im Kreise der Literaten. Nichts kann ihn bremsen, auch nicht die Militärdiktatur von General Augusto Pinochet, dem Tyrannen, der Chiles ideologisch-politischen Traum in Angst und Blut ertränkte. Der Priester war stets mit sich im Reinen, so beginnt die Geschichte, er hat sich nichts vorzuwerfen, sein Gewissen ist unbelastet. Zweifel hat er keine, aber einen vergreisten Grünschnabel, der ihn verfolgt, ihn herausfordert und auch beleidigt. Chilenisches Nachtstück rückt Kunst neben Verbrechen, Kreativität neben Gewalt und Lebenslust neben Ignoranz, es ist eine kritische Auseinandersetzung mit elitären Kreisen, die sich über den alltäglichen Geschehnissen wähnen, sich zumeist aber nur selbst beweihräuchern.

In der Figur des Sebastian Urrutia Lacroix vereinen sich zwei sehr unterschiedliche Welten, als Priester lernt er das Diesseits nach dem Jenseits zu ordnen, als Literaturkritiker und Schriftsteller eröffnet sich ihm die Welt des intensiven Erlebens, der Überflüsse, der Unterhaltung, des Hochmuts und der Eitelkeit. Was den jungen Gottesmann zur Literatur treibt wird nie geklärt, seine Entscheidung steht ruhig und einsam im Raum, aber man kann leicht das Offensichtliche ausschließen: Der Priester flieht nicht vor der Kirche, sein Lebenswandel hindert ihn nicht daran, weiterhin seinen Glauben und sein Amt zu praktizieren. An manchen Abenden liest er die Messe, bei anderer Gelegenheit betrinkt er sich mit Freunden und Schriftstellern. Mitunter ist er ein schwer greifbarer Charakter, erscheint besonders zu Beginn der Erzählung nahezu geisterhaft, redet wenig und leidet unter einer nervösen Schwäche, die ihn davontragen will, hinaus aus der neuen Welt.

Der Widerstreit von Weltenthaltung und Weltumarmung, von Verzicht und Genuss, erscheint zuerst in Form körperlicher Leiden, wird aber bald umgesetzt in eine Wahnvorstellung, den vergreisten Grünschnabel, er ist die Ahnung des Ruchlosen und ist ruchlos in seiner Anklage gegen den Priester. Durch diese Maskierung des Konflikts kann Bolaño unbeschwert Geschichten über Literatur erzählen, über Nazis und Pinochet. Er braucht nicht die Schriftsteller anzuklagen, die sich in einer Diktatur arrangieren, um Bücher zu verkaufen und abends Partys feiern. Der vergreiste Grünschnabel nistet sich im Kopf des Priesters ein, das Echo seiner Beschuldigungen ist laut und die Strafe für zu viel Selbstgefälligkeit – Lacroix redet von Unschuld und kann sich kaum gegen den aufkommenden Wahnsinn zur Wehr setzen. Er zahlt den Preis für seine illustren Kollegen, die Dichter und Denker. Es ist eine interessante, aber auch problematische Form der Darstellung, oft erscheinen Szenen von großer Bedeutung in der Luft zu hängen, da sie keinen gewichtigen Abschluss finden, als Leser kann man dadurch leicht verunsichert werden. Wenn das Grauen in ruhigen Worten dargestellt wird, dann meist ausgiebig und detailliert, dem Leser wird keine Position vorgegeben, das Furchtbare aber so lange unter die Nase gerieben, bis er nicht mehr anders kann als innerlich zu reagieren. Nicht so in Chilenisches Nachtstück. Ernst Jünger erscheint in einem Rückblick mit großer Natürlichkeit, scheinbar ein ganz normaler Schriftsteller, niemand den man problematisieren muss:

 

"An diesem Abend, fernab dem Geschrei und der nicht eben diskreten Einlassungen der Pariser Salons, sprachen der chilenische und der deutsche Schriftsteller über alles und jedes, über das Menschliche und das Göttliche, über Krieg und Frieden, die italienische und nordische Malerei, die Quelle und die Wirkung des Bösen, so häufig von den Launen des Zufalls geleitet, über chilenische Flora und Fauna, die Jünger, dank der Lektüre seines Landsmannes Philippi, zu kennen schien [...] und dabei tranken sie manche Tasse Tee, ..."

 

Diese Unterhaltung der beiden Literaten fand im besetzen Paris statt, Jünger war Soldat und seine reaktionären Bücher fanden großen Anklang in Hitler-Deutschland. Lacroix beschreibt das Treffen ohne Pathos, auch Kommentare fehlen – genauso wird er später auch auf seine Zusammenarbeit mit General Pinochet zurückblicken, dem er half, die Ideen des Marxismus zu verstehen. Er hat ein reines Gewissen, das sagte er zu Beginn der Erzählung, auch wenn der vergreiste Grünschnabel protestierte.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Soutane des Priesters, sie verdeutlicht nach Außen die kirchliche Rolle Lacroix´, dient aber auch als Spiegel des Inneren. Oft ist sie dreckig oder nicht so sauber wie die Soutane eines anderen Priesters, der sein Leben ausschließlich der Kirche widmet. Oft ist sie unkontrollierbar, der Wind wirbelt sie hin und her, Lacroix kann sie nicht beherrschen, mitunter bedeckt sie seine Augen und nimmt ihn ganz gefangen. Wie nicht anders zu erwarten, verliert er dabei nicht die Ruhe, stoisch übersteht er unangenehme Situationen in seiner zweifelhaften Soutane, lässt keine Zweifel zu und blickt stumpf nach vorne. Als Symbol der Kirche wird das Gewand genauso übergangen wie alle moralischen Bedenken, es wird schlecht behandelt und immer wieder dreckig. Die priesterliche Seite des Protagonisten ist und bleibt Grundlage seiner Gelassenheit und Ignoranz, dies sieht man in regelmäßigen Abständen in Form der Soutane.

Roberto Bolaño war Chilene, verbrachte aber die meiste Zeit seines Lebens in Mexiko und Spanien, nachdem er unter der Diktatur Pinochets gefangengenommen wurde. In Mexiko wurde er Teil einer jungen, literarischen Bewegung, die sich als Infrarrealismo bezeichnete und dessen bedeutendster Vertreter Bolaño werden sollte. Der Infrarrealismo war gekennzeichnet durch seine aktiv-kritische Einstellung zum bestehenden Kulturbetrieb, dies äußerte sich unter anderem in Sabotageakten gegenüber erfolgreichen, etablierten Schriftstellern, wie Octavio Paz oder David Huerta.

Chilenische Nachtstück ist eine unterhaltsame, manchmal verstörende Kritik am Lebensstil der Schriftsteller, ihrer fehlenden Verantwortung und Selbstgefälligkeit, erzählt nahezu ohne Unterbrechungen, einfach und schnell. Lesen sollte man dieses Buch jedoch mit Ruhe, um bei der ganzen Unterhaltung nicht die kritischen Stellen zu übersehen.

Chilenisches Nachtstück

Roberto Bolaño, Hanser

Chilenisches Nachtstück

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