Die wilden Detektive

  • Hanser
  • Erschienen: Januar 2002
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  • Barcelona: Anagrama, 1998, Titel: 'Los detectives salvajes', Seiten: 609, Originalsprache
  • München; Wien: Hanser, 2002, Seiten: 683, Übersetzt: Heinrich von Berenberg
  • München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 2004, Seiten: 779, Übersetzt: Heinrich von Berenberg
Die wilden Detektive
Die wilden Detektive
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Sebastian Riemann
901001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2011

Aus Liebe zur Literatur und zum Abenteuer

Eine literarische Entdeckungsreise auf der Überholspur. Junge Dichter in Mexiko suchen neue Wege der Entfaltung, sowie eine adäquate Lebensweise. Ein verwirrender und bezaubernder Roman über eine kleine Gruppe aufrührerischer Poeten, die sich beständig auf der Suche befinden nach Versen, Sex und Aufregung. Ulises Lima und Arturo Belano nennen sich die beiden Anführer, die dem Leser immer wieder über den Weg laufen. Ein einzigartiger Roman über Künstler und die Kunst zu leben.

Das Buch gliedert sich in drei Teile; zum einen gibt es die Aufzeichnungen des jungen Dichters Garcia Maderno aus den Jahren 1975 und 1976, sie bilden den ersten und dritten Teil, während der große Mittelteil aus 96 Berichten besteht, die von verschiedenen Personen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten handeln. Erzählt wird indirekt, manchmal am Rande, beiläufig. Die Protagonisten Belano und Lima wenden sich zu keinem Zeitpunkt direkt an den Leser, vielmehr berichten ihre Freunde, Anhänger und Weggefährten von ihnen, von der gemeinsamen Zeit, aber auch vom eigenen Leben, welches mitunter wenig Verbindungen zu den beiden Poeten aufweist und sich nicht in das Geflecht der Künstlergruppe einfügt, sondern vielmehr dem Erzählwahnsinn des Autors Rechnung trägt. Ganz unterschiedliche Figuren lassen Einblicke in ihr Leben zu, erwähnen Belano oder Lima, und verschwinden wieder aus dem Buch, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Die meisten von ihnen sind jedoch Poeten oder interessieren sich für Poesie, sind Teil der Dichtergruppe der "Realviszeralisten" oder zumindest dem mysteriösen Ruf der Gruppe erlegen.

Worin die Poesie der "Realviszeralisten" besteht, wird nicht klar. Überhaupt führt das Thema Literatur ein Schattendasein in diesem Buch, es ist stets anwesend, wird aber nicht wirklich beachtet. Sätze wie "wir redeten die ganze Nacht über Bücher" oder "sie lasen sich gegenseitig ihre Gedichte vor" erschöpfen das Thema. Die Dichter werden nicht als Produzenten von Kunst betrachtet, sondern vielmehr als Abenteurer, die das Leben mit intellektuellem Schwung und Liebe angehen, immer auf der Suche nach Neuem und Wertvollem, nach Bereicherung. Poesie als Lebenshaltung.

Der Reiz dieses außergewöhnlichen Buches besteht in eben dieser Betrachtung der jungen Dichter. Es ist kein gewöhnlicher Künstlerroman, der die bekannten Leiden und Gelüste der Kreativen problematisiert, sondern eine tiefsinnigen Schatzsuche, die sich leicht ihren Weg bahnt, sich mit anderen Lebensläufen verknotet, und letztlich ruhelos durch Zeit und Raum treibt.

Alles beginnt in Mexiko-Stadt, jener grauenhaften und wunderbaren Metropole. Die "Realviszeralisten" führen ein wenig beachtetes Dasein als Gegner der herrschenden literarischen Strömungen, sie verbringen ihre Zeit damit, nicht zu studieren und nicht zu arbeiten, sie suchen das Vergnügen und ein intellektuelles Leben abseits vom Mainstream. Ihre Vorbilder sind Dichter und Dichterinnen, die kaum bekannt sind und wenig publiziert haben, die Legenden gleichen. Sie schlagen sich durch mit dem Verkauf von Marihuana oder dem Geld der Eltern, vor sich eine ungewisse Zukunft. Die meisten von ihnen sind arm, haben nicht einmal genügend Geld, um sich Bücher zu kaufen. Ein Zentrum der Gruppe wird deshalb das Haus der Familie Font, welche über mehr Ressourcen verfügt. Die Töchter Maria und Angelica stehen den jungen Dichtern nahe, in Fragen der Erotik, vielleicht sogar in Fragen der Literatur. Die jugendliche Prostituierte Lupe ist Freundin der Familie, besonders des Vaters, und lernt auch den Verfasser der Aufzeichnungen des ersten Teiles des Buches, Garcia Maderno, kennen. Durch einen plötzlichen Wandel der Situation kommt es zur Flucht der beiden, zusammen mit den Dichtern Lima und Belano, aus der Hauptstadt Mexiko, verfolgt werden sie von Lupes Zuhälter, einem Mann, der wenig von Literatur, aber viel vom Knochenbrechen versteht.

Der zweite Teil des Buches ist eine Kollage aus Berichten von Leuten, die Lima oder Belano trafen. Sie erzählen vom Kennenlernen, von der gemeinsamen Zeit, vom Interesse an Literatur und Sex. Dabei ergänzen sie sich und widersprechen sich manchmal. Es entsteht ein sehr reiches, vielseitiges Bild der beiden Dichter, die durch die Augen sehr unterschiedlicher Personen betrachtet werden. Ungewöhnlich und faszinierend ist diese Methode, sich mit den Protagonisten zu befassen. Der Leser ahnt oft nicht, wann und wo einer der beiden Dichter auftauchen, wie er auf die erzählende Person wirken wird. Die beiden Hauptfiguren bleiben somit ein Rätsel, welches sich nur langsam lüftet. Häufig verschwinden sie von der Bildfläche und die verbliebenen Personen berichten nicht über sie, sondern rätseln vielmehr, was wohl mit ihnen geschehen sei. Sie sind mysteriös in ihrem Verhalten, aber auch in ihrer Lebenshaltung, die sie zu „Realviszeralisten" macht.
Die Berichte werden durch ihren gemeinsamen Bezug zur Dichtergruppe zusammengehalten, sind miteinander jedoch kaum verbunden. Bolaño schreibt schnell und viel, auf wenigen Seiten vermag er Biographien unterzubringen, die mit den Protagonisten nur wenig gemein haben, trotzdem interessant sind, und dann doch einen Weg finden, sich mit der (verschleierten) Haupthandlung zu verbinden. Nicht alles muss sich dabei kombinieren, vieles bleibt für sich allein stehen und erscheint fragwürdig in Bezug auf das gesamte Buch. Unterhaltsam sind sie jedoch allesamt, diese Berichte und Biographien, denn am Ende sind es die Lebensentwürfe der Figuren, die sie miteinander verbinden, und selten die Handlung.

Der dritte Teil des Buches schließt den Kreis, wird wieder von Garcia Maderno berichtet, und knüpft an die Flucht aus der Hauptstadt an, welche den ersten Teil beendete. Überraschend viel Aktion und Spannung kommt auf, verbindet sich mit der Suche nach einer legendären Dichterin, an deren Existenz manchmal gezweifelt wurde, und die in der Literaturwelt nur eine einzige Spur hinterlassen hat – ein Gedicht, welches so avantgardistisch ist, dass es ein Witz ist.

Die Bezüge zur eigenen Biographie des Autors sind vielfältig. Er selbst lebte viele Jahre in Mexiko, nachdem er aus Chile vor der Pinochet-Diktatur geflohen war. Arturo Belano, einer der beiden Protagonisten, ist ebenfalls chilenischer Schriftsteller und sein Name klingt verdächtigt nach Roberto Bolaño. Die Gruppe der "Realviszeralisten" deutet wohl auf die Gruppe der Infrarealisten hin, welcher Bolaño angehörte, und die sich energisch gegen den etablierten Literaturbetrieb in Lateinamerika stellten. Ihr Feinbild war die Überfigur des Octavio Paz. Auch die Reisen der Dichter durch Europa erinnern an Bolaños Aufenthalte in jenen Regionen. Besonders viel Aufmerksamkeit wird der Region Barcelona geschenkt, wo der Schriftsteller bis zu seinem Tode im Jahr 2003 lebte.

Die wilden Detektive ist ein ungewöhnliches Buch, berauschend in seiner Fülle und in seiner Liebe zur Literatur, die auch hin und wieder auf den Arm genommen wird. Bolaño ist ein großer Erzähler, mit Geschick und Humor knüpft er einen Satz an den anderen, das Leben einer Figur an das Leben einer anderen Figur. Mit ihm kann der Leser viel entdecken, viel nachdenken. Der Autor versteht Literatur und Leben als Einheit, auch wenn man sich manchmal verliert in den Definitionen dieser Einheit. Die Lektüre ist ein herausforderndes und begeisterndes Erlebnis, für alle, die lesen und zu suchen verstehen.

Die wilden Detektive

Roberto Bolaño, Hanser

Die wilden Detektive

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