Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 2014
  • 0
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2014, Seiten: 352, Originalsprache
Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur
Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur
Wertung wird geladen
Claire Schmartz
901001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2014

Eine leicht lesbare Studie zum Phänomen der Scham

Menschen schämen sich nicht (mehr), nackt baden zu gehen – dank der 68er und der mit aller Vehemenz vollzogenen "Schamvernichtungskampagne". Heute könnte es eher peinlich sein, nicht den perfekten, ideal rasierten Körper zu präsentieren. Eben diesem Wahrnehmungswandel widmet Greiner sein neuestes Werk: dem Übergang von einer Schamkultur zu einer Kultur der Peinlichkeit.
Ulrich Greiner war 10 Jahre lang Feuilletonchef der Zeit und ist ihr bis heute als Autor erhalten geblieben. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Er ist Mitglied des PEN sowie Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Greiner bezeichnet Schamverlust als den Versuch, die Gefühlskultur seiner Zeit, des Heute, zu betrachten und betont, dass sein Buch keinen wissenschaftlichen Zweck verfolge.

Mit seinem Buch Schamverlust liefert Greiner eine leicht lesbare Studie zum Phänomen der Scham in der Soziologie, Literatur, Malerei und Pop-Kultur. Klar werden die von ihm benutzten Begriffe definiert: Privates und Öffentliches, Peinlichkeit und Scham, Fremdschämen, Schuld und Gewissen. Dabei kreist der Leitgedanke stets um Greiners These, dass Scham kein natürliches, sondern ein im Verlaufe der Geschichte anerzogenes, auferlegtes Gefühl sei, also ein Produkt der Kultur. Und vor diesem Hintergrund wird der Wandel der Gefühlskultur historisch aufgezogen und mit Beispielen aus der Kunst und Politik belegt.

Die Schamkultur, inneres Regelwerk moralischer Richtlinien, wird abgelöst durch eine Kultur der Peinlichkeit. Der Wandel dieser sozialen Komponente ist für Greiner zentral für die Form des heutigen Zusammenlebens. Greiner definiert Scham als das Empfinden von Schuld aufgrund der Verletzung der Selbstachtung: Dies ist ein Gefühl, das sich der Selbstkontrolle des Einzelnen entzieht und plötzlich und heftig stattfindet. In der Empfindung der Peinlichkeit hingegen sieht Greiner den bloßen Verstoß gegen eine äußere Verhaltensregel, bei dem man beobachtet wird.

Ob wir uns nun für uns selber oder für andere schämen, das Schamgefühl bleibt das gleiche. Im Augenblick der Scham sehen wir uns durch die Augen einer anerkannten Autorität (Gott, Vater, Mutter o.a.) beurteilt oder in Abweichung zu dem von uns angestrebten moralischen Ideal. Freud bezeichnete dies als Über-Ich. Scham wird, laut Greiner, genau durch eine Verletzung jenes Ehrenkodexes verursacht und die sich schämende Person muss vor allem vor sich selber Rechenschaft ablegen.

Hervorgerufen durch das Erkennen dieser moralischen Netzwerke entstand, Greiner zufolge, schnell ein Gefühl der Unfreiheit. Niemand will sich schämen und so versuchen die Menschen, sich von den Autoritäten lösen, die sie verinnerlicht haben und welche sie dermaßen von innen heraus steuern können. Sie tragen genau das zur Schau, für das sie sich eigentlich schämen müssten. Der Mensch will frei sein und seine Authentizität zur Schau stellen, und das bedeutet nicht selten, vehement, Scham zu vermeiden, Tabubrüche zu inszenieren, schamlos zu sein. Thomas Mann, Sartre, Kierkegaard, Dostojewski und Kafka, Norbert Elias und Michel Foucault, sie und viele andere haben direkt oder indirekt hierüber geschrieben.

Greiner betont jedoch, dass ein schamloses Leben nicht automatisch ein freies Leben ist, da es eigene Regeln mit sich bringe. Dies unterstreicht er anhand der entstandenen Kultur der Peinlichkeit.

Inzwischen sind Verhaltensweisen, die vor einiger Zeit noch als skandalös gegolten hätten, üblich geworden. In unserer Zeit benimmt sich jeder so, wie er will. Politiker haben Sex-Skandale, Aktionen von Femen und öffentliche Nacktheit sind alltäglich geworden. Schämen tut sich hierfür niemand mehr. Die Kultur der Peinlichkeit stützt sich vor allem auf Äußerlichkeiten: Peinlich ist, was öffentlich gegen soziale Verhaltensregeln verstößt. Es hat eine Entnormalisierung der strengen Verhaltensregeln, ein Wandel des Erlaubten und des Gebotenen stattgefunden. Die einst erschütternde, zerrüttende Scham wurde von einer nahezu banalen Peinlichkeit abgelöst.

Aber das bedeutet eben nicht gleich, dass allgemein eine Enthemmung stattgefunden hat. Greiner betont, dass heute sehr viele Kontrollmechanismen wirken, so dass der Befreiungsversuch auch dazu geführt hat, dass der Mensch sich zwar einerseits von gewissen Verhaltensregeln gelöst hat, andererseits aber auch in andere Einbindungen, Richtlinien und Vorgaben verstrickt hat.

Greiners Schamverlust ist ein interessantes Buch. Prägnant, klar und deutlich geschrieben erlaubt es dem Leser den unterschiedlichen Konzeptionen und Beschreibungen der Scham zu folgen. Dabei verschafft der Autor einen guten Überblick über die Soziologie und die dasselbe Thema behandelnde Kunst, und weckt mittels der Querverweise auf andere Werke zugleich die Lust auf mehr. Auch der Bezug zur heutigen Zeit erlaubt es, eigene Schlüsse zu ziehen und die „aus den Fugen geratene" Zeit in einem historischen Kontext zu verstehen.

Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur

Ulrich Greiner, Rowohlt

Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik