Leben

  • Rowohlt
  • Erschienen: Januar 2013
  • 1
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013, Seiten: 288, Originalsprache
Leben
Leben
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Britta Höhne
901001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2013

Wenn du nicht stirbst, dann sterbe ich

Eigentlich beherrschen nur Kinder das Phänomen, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen. Abzutauchen, weg aus der Welt. Hineinzurutschen, in einen Mikrokosmos, der von den Großen belächelt wird. Dann rutschen sie auf Knien über den Erdboden, entdecken Klein- und Kleinstlebewesen, erfreuen sich an Formen, Farben und daran, dass Schneeflocken so leise fallen. Sagt die Mutter dann: "Komm, wir müssen weiter", schaut das Kind empört hinauf und fragt nur: "Warum?". Ja, warum muss eigentlich jeder immer weiter? David Wagner sucht die Erklärung in seinem neuesten Roman Leben. Der Titel hält was er verspricht. Handelt das Buch doch vom Leben, vom Leben mit einer kaputten Leber und schließlich mit einer Eingetauschten.

Zeitlebens ist W. krank. Namen spart der Autor sich, der für diesen wunderbaren Roman mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Namen sind auch nicht wichtig. In Leben geht es um die tragenden Dinge, um das, was schwer wiegt – wie die Leber. Schon als Kind muss W. ständig ins Krankenhaus. Wagner erklärt akribisch genau warum. Sehr fundiert und medizinisch korrekt (wenngleich aus anderen Schriften entliehen): "Befund: Im unteren Drittel des Ösophagus sind vier Varizenstränge von mehr als 5 mm Durchmesser zu sehen. (…) An der Minorseite reichen die Varizien bis unterhalb der Kardia. Auf den Varizien red colour signs. Es liegt eine aktive Blutung vor..." Und so weiter und so weiter. W. (für Wagner?) kennt sich aus. Weiß alles über die Leber und die Krankheiten drum herum.

David Wagner, geboren 1971, legt keines dieser Bücher vor, die traurig Stimmen, obwohl der Tod immer zugegen ist. Ganz im Gegenteil. Sein Leben zeugt von Leben. Lässt Kleinigkeiten entdecken, oder eben auch nicht, wie die beiden Chagall-Drucke im Krankenzimmer. W. mag Chagall nicht. Zu kitschig und Farben, die unter anderem an Urin erinnern. In all seiner Dramatik ist Leben ein Buch voller Süffisanz, Zynismus, schwarzem Humor, Hoffnung. Dann etwa, als Wagner listet: Mann stirbt im Kessel mit heißer Schokolade. Frau stirbt bei Spaziergang, als ihr ein panisch gewordener Schafsbock auf den Kopf springt. Daniel Webb (33), 340 Kilogramm schwer stirbt an Herzversagen. Frau erschlägt Mann und zersägt ihn. Mann wird erdrosselt im Hotelzimmer aufgefunden. Mann stirbt, nachdem er Kompost im Garten verteilt hat am Schimmelpilz aspergillus fumigatus.

Abgesehen von der zerstückelten Leiche, alles potentielle Organspender, vorausgesetzt, der richtige Pass für Eurotrans, oder eine andere Teile-Vergabestelle liegt vor. Tod in Hollywood (Evelyn Waugh), nicht für die Kosmetik nach dem Tod, sondern für Leber, Lunge, Herz und Nieren. Spannend, findet der Autor, wenn sich die Transplantationsgeschwister einmal begegneten. "Wir fünf bis sechs Empfänger könnten Freunde werden, das Herz, die Lunge, die beiden Nieren, die Bauchspeicheldrüse und ich, die Leber..."

W. erleidet einen Rückfall. Wechselt Reha- mit Klinikbett. Sein Krankenhauszimmer erinnert sich an ihn. Ein Zimmernachbar von der Erholungskur am Müritz-See stirbt. Einer von denen, die zum Frühstück nicht krank sein, nicht über Erkrankung sprechen wollten. Der Mann hat zu Ende gelebt. W. macht weiter. Muss weiter machen, auch wenn er sich vorstellt, wie andere Menschen sterben. Er erinnert sich an seine junge Tochter, auch sie namenlos. Ihre Begeisterungsfähigkeit begeistert ihn. Die Lust der kleinen Dinge. W. macht weiter, für Tochter und Organ. Immerhin hat jemand sein Leben gelassen und W. lebt weiter. Wie viele Teile einer Greta Garbo bedarf es, fragt er sich, um Garbos Identität anzunehmen? Ein wenig Blut? Eine Hand? Etwas aus dem Gesicht? W. zumindest ist nie mehr alleine. Sie (er ist sich sicher die Leber einer Frau in sich zu tragen) ist allgegenwärtig. Ist das nicht sonst nur Gott?

W. ist von Beginn seines Lebens an in einer nicht gerade glücklichen Lage. Er denkt sich, ähnlich wie bei "Als ich meine Eltern verließ" (Michel Rostain) aus, wie die eigene Beerdigung gestaltet werden könnte. Wer kommt, wer nicht, wer weint, wer nicht. Auch Wagner schafft das ohne Pathos. Sachlich geradezu, was dem Roman eine gewisse Härte verleiht. Aber nicht nur: Sinniert er doch darüber, dass Leberwurst nach einer Lebertransplantation nicht gerade ein adäquates Frühstück ist.

David Wagner hat ihn zu Recht bekommen, den Preis der Leipziger Buchmesse. Und sicher werden noch einige folgen: Preise und Romane – hoffentlich.

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