Der weite Weg nach Hause

  • Suhrkamp
  • Erschienen: Januar 2009
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  • London: Chatto & Windus, 2007, Titel: 'The road home', Seiten: 365, Originalsprache
  • Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, Seiten: 490, Übersetzt: Christel Dormagen
  • Frankfurt am Main: Insel, 2011, Seiten: 490
Der weite Weg nach Hause
Der weite Weg nach Hause
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Romy Fölck
951001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2011

Märchen der Gegenwart

Es ist die Geschichte eines Mannes Anfang 40, der seine osteuropäische Heimat verlässt, um in London nach Arbeit zu suchen und der neue Hoffnung und seine Berufung findet.

Wer bei Der weite Weg nach Hause ein melancholisches Buch erwartet, oder eines bei dem die Autorin fortwährend den Zeigefinger hebt, um auf die schäbigen Zustände von osteuropäischen Immigranten im reichen Westen hinzuweisen, wird überrascht sein. Denn dieser wundervolle Roman ist nur selten schwermütig, nur in wenigen Fingerzeigen missbilligend.

Sprachgewandt, mit Liebe zum Detail und wunderbar witzig nimmt uns Rose Tremain mit in Levs Welt, stellt uns einen Helden vor, der gar keiner sein will, der nicht mit den einfachen und oft harten Zuständen seines alten Lebens in Osteuropa hadert, sondern vielmehr seine Schwierigkeiten mit der Fülle und Oberflächlichkeit der westlichen Welt hat.

 

Ein Mann mag weit reisen, aber sein Herz hält nicht Schritt.

 

Lev mochte sein altes Leben, die Einfachheit der Dinge in seinem Dorf, seine Familie und Freunde, selbst die harte Arbeit im Sägewerk. Mit seiner schönen Frau Marina, seinem verrückten Kumpel Rudi und Maya, seiner kleinen Tochter, schien seine kleine Welt in Ordnung. Bis sie einstürzte.

 

Abends zog sie eine gestreifte Schürze an und sang, während sie das Abendessen zubereitete. Geduldig wie eine Madonna wiegte sie ihr Kind in seinem kleinen Bettchen in den Schlaf. In einer Sommernacht tanzte sie Tango in roten Schuhen. Viele Monate lang nähte sie aus Stoffresten eine Decke. Sie schlief mit Lev wie eine verrückte Zigeunerin, ihr dunkles Haar über seinem Gesicht. Sie war vollkommen, und sie war nicht mehr…

 

Als Marina mit 36 Jahren stirbt und schließlich auch das Sägewerk schließt, trifft Lev eine Entscheidung, krempelt sein Leben komplett um: er lernt Englisch und geht nach London, um Arbeit zu finden. Er will das Geld zu seiner Mutter und zu Maya nach Hause schicken, um ihre Zukunft zu sichern, auch wenn ihn der Abschied von seiner Heimat schier zerreißt. Lev kämpft sich in London durch, trägt für einen Hungerlohn Prospekte aus, schläft wie ein Hund in einem Kellereingang. Doch Rose Tremain schildert Levs erste Tage im Westen nüchtern, nicht theatralisch. Die neue Welt ist fremd, aber Lev ist hart im Nehmen, denn er hat nur ein Ziel: Arbeit zu finden und Geld nach Hause zu schicken.

 

Und er sah in Stefan auch einen Grund, weshalb er jetzt hier in London war, denn er musste in sich selbst jene Unbeweglichkeit seines Vaters bekämpfen, und er dachte: Ich sollte dankbar für die Schließung der Sägemühle sein, sonst wäre ich genau da, wo er war, ewig auf einem Stuhl. Ich wäre bis zu meinem Tod der Sklave eines Holzhofs, Sklave des immergleichen Mittagessens und des Schnees, der jahrein, jahraus fällt und verweht, an denselben abgelegenen rückständigen Orten fällt und verweht.

 

Es dauert nicht lange und Lev findet eine feste Anstellung als Tellerwäscher in einem Restaurant, wo er plötzlich seine Leidenschaft für das Kochen entdeckt. Er mietet sich bei dem verqueren Iren Christy ein, der durch seine Sauferei Frau und Kind vertrieben hat und in Wehmut ertrinkt, bis Lev in sein Kinderzimmer zieht und ihn zurück ins Leben katapultiert. Hier finden sich zwei verlorene Seelen in einer Männerfreundschaft, die anrührt und beim Lesen so manches Schmunzeln verursacht.

In geschickt eingebauten Rückblenden erzählt Rose Tremain von Levs früherem Leben mit Marina und Maya und von den Abenteuern mit seinem besten Freund, dem Taxifahrer Rudi, dessen Tschewi, ein alter Chevrolet Phoenix, sein ganzer Stolz ist und bei dem schon auf der Jungfernfahrt eine Tür abfällt und wo gegen das Einfrieren der Scheibenwischer nur eines hilft - eine Flasche Woditschka. Lev und Rudi sind ein urkomisches Gespann, ihre Ideen sind so verrückt wie erfrischend. Dass Rose Tremain immer wieder Erinnerungen an Levs altes Leben einknüpft und beiden Erzählstränge nebeneinander laufen lässt, verwirrt keinesfalls. Im Gegenteil, kunstfertig baut sie noch mehr Spannung auf, bis die Geschichten sich ineinander fügen. 

Unverhofft stolpert Lev in London in eine neue Liebe. In der überkandidelten Sophie mit ihrer Fröhlichkeit und sexuellen Energie findet er für einen Moment neues Lebensglück. Sophie nimmt Lev an Weihnachten mit in ein Altenheim, in dem sie aushilft. Durch Zufall gerät Lev in die Küche und schwingt dort alsbald als Chefkoch den Kochlöffel. Neue Gerichte kommen auf den Tisch:

 

Abartig leckere Freilandhühnerbrüstchen, mit Pilzen, Schalotten und Kräutern gefüllt, als Beilage eine irre brillante Jus" oder "verdammt köstliche vegetarische Würstchen mit Nichtscheißtütenkartoffelpüree.

 

Die Speisekarte wird zum großen Vergnügen der betagten Bewohner. Und Lev entdeckt seine Berufung.

Gerade als Lev in London Fuß zu fassen scheint, erreichen ihn schlimme Nachrichten von zu Hause. Ein großer Damm soll gebaut werden, sein Dorf Auror wird unter den Wassermassen verschwinden, Familie und Freunde sollen umgesiedelt werden. Doch Lev gibt nicht auf - er hat eine verrückte Geschäftsidee, die all seinen Freunden neuen Lebensmut schenken soll und er schuftet noch mehr, um sich das Startkapital für seinen Traum zu verdienen.

Die englische, preisgekrönte Autorin Rose Tremain hat mit ihrem Roman um einen entwurzelten Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht, ein erstklassiges modernes Märchen geschrieben, auch wenn das Ende doch anders ausfällt, als erwartet.

Man möchte sie am Ende gar nicht gehen lassen - Lev, Rudi, Christy und den Tschewi - denn sie sind Freunde geworden. Aber Lev hat sich wieder auf den Weg gemacht… den ganzen weiten Weg nach Hause.

Der weite Weg nach Hause

Rose Tremain, Suhrkamp

Der weite Weg nach Hause

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