Fleabag
Film-Kritik von Yannic Niehr
FLEABAG [noun]: „a dirty and/or unpleasant person or animal“ (Cambridge Online Dictionary)
Eine kaputte Familie, ein eher schlecht als recht laufendes Café, eine verstorbene beste Freundin – das ist das Leben von „Fleabag“, einer jungen Frau in ihren Dreißigern, die ihren Londoner Alltag mit viel Gelegenheitssex füllt, nachdem sie von ihrem hochemotionalen Freund Harry – mal wieder – abserviert wurde. Immerhin mit ihrer angespannten, karrieregebeutelten Schwester Claire hält sie zusammen wie Dick und Dünn, könnten die beiden auch unterschiedlicher nicht sein und ist auch ihr Schwager ein echtes Ekelpaket. Nach dem Tod der Mutter hat sich die Patentante, eine verschrobene, pseudo-feministische Künstlerin an den Vater herangemacht, womit die beiden Töchter insgeheim so gar nicht einverstanden sind. Aus schelmischer Gehässigkeit stiehlt Fleabag daher eine Skulptur aus dem Atelier ihrer Stiefmutter in spe.
Gleichzeitig treiben sie Geldsorgen um, denn das Café, das sie einst gemeinsam mit ihrer Freundin Boo führte – die scheinbar einzige, die sich wirklich verstanden hat – geht den Bach runter. Doch muss sie sich nicht nur mit dem Betteln um einen Kredit herumschlagen, um sich über Wasser zu halten, sondern auch mit verdrängten Erinnerungen an den wahren Grund für Boos Tod, der eine innere Leere in ihr ausgelöst hat, welche die Ursache für ihre Schwierigkeiten bei der Männersuche und ihr ziel- und orientierungsloses Treibenlassen darstellt – und diese Leere lässt sich immer schwerer zurückdrängen. Dann steht die Hochzeit von Vater und Patentante an – und kurzerhand verliebt sie sich in den attraktiven Priester, der die beiden trauen soll. Er ist eine der wenigen Personen, der mit ihr auf einer Wellenlänge schwingt – schade nur, dass er natürlich ans Zölibat gebunden ist. Kann Fleabag auf Umwegen trotzdem noch zu ihrer persönlichen Zufriedenheit finden ...?
„Being proper and sweet and nice and pleasing is a fucking nightmare. It’s exhausting“
Fleabag startete in Großbritannien bereits 2016 bei der BBC, avancierte schlagartig zum Publikums- wie Kritikerliebling und räumte zahlreiche Preise ab. Multitalent (und Hauptdarstellerin) Phoebe Waller-Bridge schrieb das Drehbuch, welches auf ihrer gleichnamigen, ebenfalls hochgelobten One-Woman-Show, einem von ihr selbst performten und 2013 beim Edinburgh Fringe Festival uraufgeführten Theater-Monolog, basiert. Neben ihrer Arbeit als Schauspielerin hat ihr eigenwilliger, charakteristischer Drehbuch-Stil ihr seitdem eine Menge hochkarätiger Projekte verschafft, wie z.B. Killing Eve oder James Bond 007: Keine Zeit zu sterben – dies völlig zurecht, denn in ihrem Herzensprojekt Fleabag zieht sie alle Register ihres Könnens.
„I just think I want someone to tell me how to live my life, because so far I think I’ve been getting it wrong“
Zum Glück ist die Serie als Erweiterung des Theaterstücks konzipiert und enthält nicht nur die 1:1 adaptierten Dialoge, sondern auch völlig neue Situationen und sogar Figuren. So wurde die Rolle der Patentante und zukünftigen Ehefrau des Vaters für Oscargewinnerin Olivia Colman (Hot Fuzz, The Favourite, The Crown)geschrieben, die damit unter Beweis stellt, dass sie auch eine absolute Unsympathin glaubhaft und unterhaltsam verkörpern kann. Mit unbeholfenem Charme glänzt Bill Paterson (Doctor Who, Outlander, Good Omens) in der Rolle des Vaters. Die versierte Theaterschauspielerin Sian Clifford hat in der Rolle der unterkühlten Claire ihren großen Durchbruch, während Sherlock-Schurke Andrew Scott den Priester mit erfrischender Aufrichtigkeit gibt. Erwähnenswert sind weiterhin Hugh Skinner als Ex Harry, dessen Auslegung an seine Darbietung in Mamma Mia!: Here We Go Again erinnert, der US-amerikanische Schauspieler Brett Gelman (Mr. Mercedes, Stranger Things) als Claires unausstehlicher, egomanischer Ehemann Martin, Fiona Shaw (My Left Foot, Harry Potter) als Therapeutin, die Fleabag aufsucht, weil sie den dafür ausgelegten Gutschein, den ihre Schwester ausgeschlagen hat, nicht verfallen lassen wollte und die ihre Barrieren mühelos einzureißen vermag, sowie Kristin Scott Thomas (The English Patient, Rebecca) als alternde, lesbische Karrierefrau, die dank ihrer Lebenserfahrung mit einer Menge guter Ratschläge aufwartet (zwar nur ein einmaliger Gastauftritt, aber was für einer!). Das restliche Ensemble muss sich nicht verstecken; allen voran bleibt Jenny Rainsford (Law & Order UK, Prometheus) mit ihren anrührenden, kurzen Flashback-Momenten als beste Freundin Boo nachhaltig im Gedächtnis.
„I sometimes worry that I wouldn’t be such a feminist if I had bigger tits“
Der Star ist aber ohne Zweifel Phoebe Waller-Bridge selbst. Das große Gimmick der Serie (der direkten Ansprache der Theaterversion nachempfunden), ist Fleabags ständiges Durchbrechen der vierten Wand: Immer wieder wendet sie sich an uns als Zuschauer und teilt ihre Gedanken zu den abstrusen und zum Teil doch sehr fremdschambehafteten Momenten mit, die sie durchlebt. Schnell fühlt man sich so in ihr Innenleben hineingezogen, wandelt mit ihr durch die sich in diesem Ensemble an sonderbaren (und zu großen Teilen namenlos bleibenden) Figuren ergebende Situationskomik – und kommt bei den schnellfeuernden Dialogwechseln oft aus dem Lachen nicht mehr heraus. Schon im nächsten Moment öffnet Waller-Bridge die Büchse der Pandora im Inneren ihrer Hauptfigur und vollführt einen Seelenstriptease, der einem die Tränen in die Augen treibt. Aufgrund des messerscharfen Skripts sowie Waller-Bridges einnehmender, schonungsloser Darbietung fühlt man sich auf jeder Kurve dieser emotionalen Achterbahn mitgerissen.
Aufgrund des großen Erfolges der 1. Staffel wurde eine 2. (etwas verspätet) nachgeschoben – eine durchaus riskante Entscheidung, denn hier wird die Story ohne Theatervorlage fortgesetzt. Was leicht gewollt und überflüssig hätte wirken können, gelingt aber dank des versierten Kreativteams hervorragend. Die 2. Staffel fügt neue Geschichten hinzu, die sich als stimmige Fortführung des zuvor Erzählten ergeben, vertieft aber auch Themen aus der 1., so z.B. Fleabags Komplexe und tiefe Sehnsucht nach Liebe. Daher kommt die 2. Staffel – ohne den Humor zu vernachlässigen – deutlich ernster daher und verkommt so nicht zu einer Kopie des Bisherigen. Im Zuge der dramatischen Love-oder-nicht-Love?-Story zwischen Fleabag und dem Priester (der einzige, der Fleabags Seitenbemerkung an das Publikum auf einer gewissen Ebene bemerkt) dürfen die Figuren sogar beeindruckende Entwicklungen durchmachen, die zwar nicht zu einem alle roten Fäden lösenden Happy-End, aber auf jeden Fall zu einem zufriedenstellenden Abschluss führen.
Fazit
Fleabag hat sämtliche erhaltenen Lorbeeren verdient. Selten ist Slice-of-Life-Dramedy so intelligent, ergreifend, vielschichtig und witzig. Diese Blu-Ray-Gesamtausgabe ist ein eine wahre Perle, die in keiner gut sortierten Seriensammlung fehlen sollte!
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Fotos: © justbridge entertainment GmbH
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