Beeren pflücken

Beeren pflücken
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Sabine Bongenberg
901001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2025

Die tiefe Kraft der Hoffnung und der Familie.

Seit vielen Jahren reist die indigene Mi'kmaq-Familie in der Blaubeerensaison von Nova Scotia nach Maine um hier als Saisonarbeiter ein kleines Einkommen zu erzielen. Von den Einheimischen werden sie misstrauisch beäugt, Berührungspunkte zu ihnen gibt es keine und eigentlich sind alle immer froh, wenn die "Indianer" am Ende der Saison wieder abziehen. Alles ist immer gleich - bis zu dem Sommer, in dem die vierjährige Ruthie, das jüngste Kind der Familie, spurlos verschwindet. Eben noch hatte ihr Bruder Joe gemeinsam mit ihr die Mittags-Sandwiches am Straßenrand verputzt, er war wieder zum Pflücken zurückgekehrt und plötzlich war Ruthie weg. Verzweifelt nimmt die Familie die Suche nach dem Kind auf und steht damit alleine da, lehnt doch die örtliche Polizei jede Unterstützung ab.

Die Suche nach dem verlorenen Kind wird die Familie über viele Jahre begleiten und allgemein gilt der Glaubenssatz: Ruthie ist nicht tot, sondern wird eines Tages zurückkehren. Eine widersinnige Illusion?

"Wieso bin ich so braun?... Ihr seid so weiß und ich bin so braun."

Amanda Peters führt die Leser*innen mit ihrem beeindruckenden Debutroman in die "gute" alte Zeit. Die "gute" Zeit, in der indigene Minderheiten gleichzeitig als "minderwertig" betrachtet wurden. Als ihnen bei der Aufklärung von Verbrechen Unterstützung verweigert wurde, weil man doch Wichtigeres zu tun hatte. Als man ihnen die Kinder wegnahm, weil sie doch in den Schulen der Weißen wesentlich besser auf das Leben vorbereitet wurden und hier die wirklich "wichtigen" Dinge im Leben lernten. Von diesen Erfahrungen berichtet der Ich-Erzähler Joe als Angehöriger der Mi'kmaqs in kühler Abgeklärtheit. Für ihn sind diese Ungerechtigkeiten altbekannte Tatsachen. Es ist Zeitverschwendung sie überhaupt zu diskutieren.

Neben Joe tritt im Wechsel der Kapitel eine weitere Ich-Erzählerin namens Norma auf. Sie wächst als Einzelkind überbehütet im Haus ihrer weißen Eltern auf. Erstaunlicherweise träumt die kleine Norma oft davon, mit ihrer Familie an einem Lagerfeuer zu sitzen und hört im Traum auch das Lachen ihres Bruders. Natürlich ist das Unsinn, hat Norma doch keine Geschwister und ihre Mutter hat ihr oft erklärt, dass sie sich vermutlich nur an die Zeit erinnert, als sie als Kleinkind für eine kurze Zeit bei ihrer Tante untergebracht wurde. Dennoch - Norma kann vieles nicht verstehen.

Norma und Joe werden nebeneinander und doch weit voneinander getrennt, erwachsen. Er lebt mit seinen Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen. Oft wird er mit Ereignissen konfrontiert, die ganz anders hätten ausgehen können, wäre die Familie als geachteter oder zumindest be-achteter Teil der Gesellschaft behandelt worden. In Normas Leben spielt dagegen Geld keine große Rolle. Sie kämpft aber mit der Einsamkeit und dem Unverständnis, dass irgendetwas in ihrem Leben nicht stimmt. Beide Lebensentwürfe stehen nebeneinander ohne dass der eine oder auch der andere verteufelt wird. 

"Sie geben einem mehr Trinkgeld, wenn man hier draußen die ursprüngliche Sprache spricht."

Amanda Peters erzählt eine großartige, berührende Geschichte. Sie handelt von der amerikanischen Gesellschaft und ihren ureigensten am ältesten eingesessenen Gruppen, die von den eigentlich Zugewanderten an den Rand und in die Isolation gedrängt wurden und bis heute oft noch werden. Es ist eine Geschichte von Zusammenhalt, Wärme und Liebe - aber auch von Alkoholismus, frühem Tod, Gewalt und beschränkten Hoffnungen. Dennoch hat das Buch auch durchaus witzige Seiten, so zum Beispiel als Joe's Vater Lewis als "original indianischer Führer" bei Jagdausflügen der reichen Weißen angeheuert wird, dabei aber verschleiern muss, dass er durchaus in der Lage ist, sich in "gutem Englisch" zu verständigen. Mit "Folklore" kann nämlich gutes Geld verdient werden.

Peters Roman wäre möglicherweise ein trauriges, dramatisches Werk, würde nicht bereits im ersten Kapitel angedeutet, dass der Erzähler Joe aus der Retrospektive berichtet. "Beeren pflücken" erzählt daher auch von der Macht der Hoffnung und dass der Wunsch danach, die verlorene Tochter wieder zu finden, vielleicht keine Illusion bleiben muss. 

Fazit

Amanda Peters Roman "Beeren pflücken" behandelt das Schicksal einer indigenen Familie am Rande der amerikanischen Gesellschaft der sechziger Jahre. Vieles ist aus unserer heutigen Sicht ungerecht und schrecklich, dennoch ist es die besondere Leistung Peters auch eine warmherzige Familiengeschichte zu erzählen, die die Kraft der Hoffnung und des Glaubens an ein spätes Glück in den Vordergrund stellt. 

Beeren pflücken

Amanda Peters, Harper Collins

Beeren pflücken

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