Lauter kleine Lügen

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Thomas Gisbertz
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Belletristik-Couch Rezension vonJun 2025

Ein Mord, zahlreiche Vorurteile und das verborgene Leben von Frauen.

Es herrscht Hochsommer 1979 in Australien. Das Leben der Bewohner einer ruhigen Sackgasse in einem Vorort von Canberra döst langweilig vor sich hin. Die wirklich spannenden Dinge scheinen woanders stattzufinden. Doch als an diesem Morgen über Warrah Place die Sonne aufgeht, verbreitet sich die Nachricht vom Tod des 19-jährigen Antonio Marietti in der Nachbarschaft wie ein Lauffeuer. Gerüchte machen schnell die Runde, immer mehr geraten in den nächsten Tagen unter Verdacht. Die zwölfjährige Tammy beginnt ihre eigenen Ermittlungen, entschlossen, herauszufinden, was passiert ist. Doch sie ist nicht die Einzige, deren gut gemeinte Bemühungen mehr Rätsel aufdecken als lösen. Doch wer hat Antonio tatsächlich umgebracht? Auf der Suche nach dem Täter zeigt sich, dass jeder der Nachbarn ein Geheimnis zu verbergen versucht. Und noch etwas fragen sich die Bewohner zunehmend: Wer war Antonio Marietti wirklich?

Therapeutin und Autorin

Kate Kemp ist eine australische Schriftstellerin, die mittlerweile mit ihrer Familie in Großbritannien lebt. Sie absolvierte zunächst eine Ausbildung als Ergotherapeutin und anschließend als systemische Psychotherapeutin. Sie arbeitete sowohl in Australien als auch in ihrer neuen Heimat in psychiatrischen Einrichtungen. Die Idee für ihren ersten Roman entstand während der Genesung von einer Operation, die Erinnerungen an ihre verstorbene Mutter und deren Leben in den späten 70er Jahren in Australien weckte - einem Land, das sich an der Schwelle zum Wandel befand. Vor allem stellte sich Kemp beim Schreiben die Frage, wie es für ihre Mutter damals gewesen sein muss, dort als Frau zu leben, in einer Zeit, in der sich das Leben für Frauen in so unterschiedlichen Kontexten wie sexueller Orientierung, sozialer Anerkennung oder auch gesellschaftlicher Stellung zunehmend veränderte.

2021 reichte Kemp den Beginn ihres geplanten Romans („The Secrets of Warrah Place“) bei einem Schreibwettbewerb ein und setzte sich gegen mehr 450 weitere Einsendungen durch. Der Lohn: der Gewinn beim „Stylist Prize for Feminist Fiction“ und einen Vorvertrag. Somit war die Basis für ihren nun beim Lübbe Verlag in Deutschland erschienen Debütroman „Lauter kleine Lügen“ (OT: The Grapevine) gelegt.

Frauen und ihre Geheimnisse

Wenn man keine Frau ist, die in 70er Jahren - bestenfalls in Australien - gelebt hat, mag die Bewertung und Einordnung des Romans vielleicht ausfallen. „Lauter kleine Lügen“ ist im besten Sinnen ein „Frauenroman“, da sich alles um sie und ihr Leben, ihre Träume und verborgenen Sehnsüchte, aber auch Vorbehalte und Ausgrenzung dreht. Naomi, eine der Hauptfiguren, die mit ihrem Mann Richard in Warrah Place lebt, beschreibt ganz zu Beginn des Romans die Rolle der Frau, wie sie sie von ihrer Mutter vermittelt bekam: Eine Frau müsse die Karten ausspielen, die sie ausgeteilt bekommt. Was aber, wenn man sich als Frau wünscht, bessere Karten zu bekommen? Wenn man sich mit seinem Schicksal nicht zufrieden gibt und sein Leben ändern möchte? Welche Hindernisse stellen sich einem in den Weg und wo liegen vielleicht Möglichkeiten? Im Roman geht es daher weniger um den Mord an sich, sondern vielmehr um die Interaktionen der Nachbarschaft in einer klaustrophobischen, eng verbundenen Gemeinschaft, in der Unzufriedenheit, Geheimnisse und Vorurteile vorherrschen.

Schwächen in der Erzählweise

Zunächst wissen die ersten Kapitel des Romans durchaus mit einem unkonventionellen Einstieg und einer ungewöhnlichen Perspektive zu überzeugen. Aus der Sicht der neugierigen 12-jährigen Tammy erfährt der Leser nicht nur, dass man den Fuß des vermissten Antonio gefunden hat, sondern nimmt auch an wunderbar gezeichneten Gesprächen der Nachbarschaft teilt, die voller Vorurteile, Tratsch, sozialer Abneigung und auch unfreiwilliger Komik sind. Doch die wunderbare Idee, das Eigenleben dieses Mikrokosmos in all seinen Facetten darzustellen, verliert sich doch schnell aufgrund einer ausufernden und sich in allzu vereinfachten Vorurteilen verfangenden Handlung.

Störend ist neben diversen Zeitsprüngen (Tage, Wochen, Monate, Jahre vor bzw. nach dem Mord) vor allem die zu gewollte Darstellung der Figuren, insbesondere der weiblichen Protagonisten. Als gelernte systemische Psychotherapeutin legt Kemp auch in ihrem Roman leider den Schwerpunkt zu sehr auf den sozialen Kontext, insbesondere auf die Interaktionen zwischen Mitgliedern der Familie und deren sozialer Umwelt. So entsteht ein Panorama unterschiedlicher Frauenfiguren, das zum einen extrem unterschiedliche Blickweise ermöglicht, aber gleichzeitig in seiner Gesamtheit den Roman überfrachtet und stellenweise wenig authentisch erscheinen lässt. Manche Charaktere und ihre Geschichte wirken wesentlich interessanter als andere, auch weil so manche Hintergrundgeschichte doch recht skizzenhaft gezeichnet wird. Besonders zum Ende liefert die Handlung zu viel Melodramatisches und strapaziert die Glaubwürdigkeit.

Fazit

 „Lauter kleine Lügen“ ist weder ein Krimi noch ein Thriller, sondern ein Gesellschaftsroman, dessen Ausgangsidee sich zu sehr in einer zu gezwungen wirkenden Schilderung der Schwierigkeiten auflöst, mit denen Frauen insbesondere Ende der 70er-Jahre zu kämpfen hatten. Ein sehr ambitionierter Roman, der nicht ganz das halten kann, was er verspricht.

Lauter kleine Lügen

Kate Kemp, Lübbe

Lauter kleine Lügen

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