Der Mikrokosmos Berchtesgaden symbolisiert für den ganzen Staat.
Mai 1945 - der Krieg ist zu Ende! Amerikaner und Franzosen nehmen das letzte Eckchen Deutschlands ein. Das ist ausgerechnet Berchtesgaden - des Führers idyllischer Lieblingsort mit Berghof und Kehlsteinhaus. Nach der ersten Euphorie setzen die Amerikaner das Military Government ein, das sowohl die Verwaltung übernimmt als auch Nazis und SS-Angehörige ausfindig machen soll. Die junge Berchtesgadenerin Sophie sieht ihre Chance gekommen und heuert als Schreibkraft an. Zwar wird ihr Shakespeare-Englisch belächelt, doch sie schlägt sich tapfer.
Während der Verhöre erfährt sie hautnah von den Verbrechen der Nazis und der SS. Das ändert nicht nur ihre Sicht auf die Vergangenheit, sondern auch auf ihre Familie, in der es Kritiker des Regimes genauso gab wie Anhänger und sogar SS-Mitglieder. Und Sophie lernt Sam kennen, einen schwarzen GI, durch den sie nicht nur die erste Liebe erfährt, sondern auch den Rassismus der Amerikaner.
Mikrokosmos Berchtesgaden
Drehbuchautorin und Filmemacherin Carolin Otto bohrt in ihrem Roman-Debüt gleich ganz dicke Bretter. So große Themen, wie Rassismus, Restitution, Judenverfolgung, SS-Verbrechen und Entnazifizierung werden mit einer Liebesgeschichte und der Frage nach eigener Schuld verwoben. Das erscheint manchmal ein bisschen viel für ein einzelnes Buch. Und so wird auch leider keines dieser Themen tiefer beleuchtet, alles wird nur angerissen, erscheint dadurch manchmal etwas zu plakativ.
Und dennoch weiß Otto zu unterhalten. Der Mikrokosmos Berchtesgaden symbolisiert den Zustand des ganzen Staates. Keiner will etwas gewusst haben, niemand war Nazi und verehrt wurde Hitler erst recht nicht. Manchmal erscheint die damalige Situation erschreckend aktuell, aber auf jeden Fall ist das Buch ganz großes Kopfkino. Otto hat es geschafft, große Weltpolitik in ganz persönlichen Schicksalen widerzuspiegeln und mit der jungen Sophie als Protagonistin genau den richtigen Ton getroffen.
Die Figuren begeistern
Obwohl „Berchtesgaden“ Fiktion mit Anlehnung an reale Ereignisse ist, kann man bei den Figuren einige historische Persönlichkeit erkennen. Allen voran Rudolf Kriss, der dem tatsächlichen Rudolf Kriß nachempfunden ist. Nur durch Zufall entkommt dieser der Todesstrafe durch die Nazis und wird von den Amerikanern als Bürgermeister von Berchtesgaden eingesetzt.
Die Kriegsreporterin Meg ist, nach eigenen Angaben von Carolin Otto, Lee Miller nachempfunden, die bei der Befreiung Dachaus dabei war und für die amerikanische Vogue direkt aus dem Krieg berichtete.
Aber auch die fiktiven Charaktere, wie Sam, Sophie und deren Familie wissen zu überzeugen. Ebenso Frank Rosenzweig, Sophies Chef und Jude. Er ist noch rechtzeitig nach Amerika ausgewandert, leitet jetzt die Verhöre zur Entnazifizierung und hofft auf ein Lebenszeichen seiner verschwundenen Familie. Sie alle repräsentieren greifbar einen Personenkreis während dieser Zeit und sind dennoch als Individuen gut gezeichnete Charaktere.
Eine Drehbuchautorin schreibt einen Roman
In vielen Szenen wird deutlich, dass Carolin Otto bisher Drehbücher verfasst hat. Immer wird alles so plastisch erzählt, dass man sich sowohl die Umgebung als auch die Figuren vor Augen führen kann. Gerade die wunderschöne Natur und die Idylle der Bergwelt sind greifbar. Vor allem werden das gesicherte Areal rund um Hitlers Berghof und die Anwesen seiner Gefolgsleute wiederbelebt, genauso wie die Plünderungen nach Kriegsende und die übereilte Flucht der Nazis mit ihren Familien. Auch wenn man bisher von dem historisch schweren Erbe der kleinen Gemeinde Berchtesgaden gewusst hat, wird man den Ort jetzt bestimmt noch einmal mit anderen Augen sehen.
Fazit
Pünktlich zum 80-jährigen Jubiläum des Kriegsendes hat Carolin Otto einen Roman geschrieben, der sehr eindrücklich große Weltgeschichte in ganz persönlichen Schicksalen verpackt. „Berchtesgaden“ ist ein Gesellschaftsroman, der in mehrfacher Hinsicht begeistert und kurzweilig ein Stück Geschichte beleuchtet, das uns heute noch zu denken geben dürfte.

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