Die der Welt abhanden gekommene Mutter.
Annie Ernaux seziert in diesem Buch die letzten Monate ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter. Dabei war es gar nicht vorgesehen, ihre Tagebuchnotizen zu veröffentlichen. Sie waren eher ein Versuch, den Abschied von der Mutter in Worte zu fassen, festzuhalten oder zu verlängern. Daraus ist ein Büchlein voll intimer Einblicke in die Alzheimererkrankung an sich und der Beziehung von Mutter und Tochter geworden. Es ist der Beginn eines langen, schmerzhaften Abschieds.
Der erste Versuch
Die ersten Anzeichen von Verwirrtheit, Vergesslichkeit und Desorientierung wurden in der Familie noch mit einer Spur stoischer Gelassenheit betrachtet, zumal sie zunächst noch alleine leben konnte. Erst der Krankenhausaufenthalt nach einem Zusammenbruch offenbarte die schwerwiegende Erkenntnis, dass sie an Alzheimer erkrankt ist. Ihre Tochter nimmt sie zu Hause auf. Die beiden Enkel, die sie mit aufgezogen hat, helfen, den Alltag mit der verwirrten Oma zu bewältigen. Aber die Situationen werden immer weniger beherrschbar.
Geriatrie
Der Ausweg aus dem Dilemma war nur ein geriatrisches Krankenhaus. Annie Ernaux beschreibt den Weg in dieses Krankenhaus mit ihrem Auto so deutlich, eine Endzeitstimmung war in dem Gesicht der Mutter ablesbar. Vielleicht sind wir heute ein letztes Mal gemeinsam mit dem Auto gefahren, so waren ihre Gedanken, die sich dann auch bewahrheitet haben. Das Erschrecken der Mutter, nicht bei Ihrer Tochter einzuziehen, sondern in ein Krankenhaus, ist so schmerzhaft, so leidvoll wie es nur sein kann.
Mit jedem weiteren Tag der Aufzeichnungen wird der geistige Verfall deutlicher. Erst ist die Brille weg, dann die Zahnprothesen und Ähnliches. Zum Zeitpunkt dieser Vorgänge waren die Begleitumstände dieser Erkrankung auch medizinischem Personal noch nicht so geläufig, daher die vielen Pannen, die heute wahrscheinlich nicht mehr so vorkommen würden. In manchen Lichtblicken huschen Gedanken durch den Kopf der verwirrten Frau, die ihre Tochter erstaunen lassen.
Es kommt immer häufiger vor, dass die Tochter in dem Körper ihrer Mutter sich selbst erkennt und vergleichende Überlegungen anstellt.
Die zunehmende Verwahrlosung, die jetzt ohne Scham erlebt wird, der Gestank von Urin und «Scheiße» sind jetzt fast an jedem Tag ihrer Besuche Realität. Anni Ernaux hält keine noch so große Unannehmlichkeit zurück, sie beschreibt die würdelosen Situationen in aller Brutalität.
Das Ende
Das Aussetzen jeglicher Gehirnfunktionen hatte auch zur Folge, dass die Mutter beispielsweise nicht mehr wusste, dass das Essen zum Mund geführt werden muss, wozu eine Toilette da ist und so viele Dinge, die normalen Menschen als fast nicht mehr wahrnehmbare Selbstverständlichkeiten betrachten. Gleichzeitig wird die Mutter zum Kind mit all der bedürftigen Zärtlichkeit, die auch Kinder empfinden. Es gibt Äußerungen der Mutter, die an die Kindheit der Tochter erinnern und aus einem tiefen Unterbewusstsein entsprungen sein könnten. Bis fast zum Schluss leuchtet jedoch ein Erkennen in dem Gesicht der Mutter auf, wenn ihre Tochter den Raum betritt. Dieses Erkennen befördert Schuldgefühle der Tochter, die sie hat, seit sie die Mutter an die stationäre Betreuung abgegeben hat, ohne die Lage ändern zu können. Ein Zusammenleben mit der erkrankten Mutter hätte sie und ihr Leben zerstört.
Anni Ernaux schreibt in ihrer reduzierten schnörkellosen Art, die weit davon entfernt ist, eine protokollarische Abhandlung der Zerstörung zu sein. In jeder Zeile des Buches spürt der Leser den Schmerz einer Tochter über das wirklich grauenhafte Ende ihrer Mutter.
Fazit
Eine Mutter findet ihr Ende in einer zerstörerischen Erkrankung und die Tochter kämpft mit ihr um die letzte Würde, die ihr noch bleibt.

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