Wenn zu viel Verantwortung die Kindheit stiehlt.
Anne ist eine ambitionierte Pharmareferentin und bereitet sich gerade auf ein wichtiges Referat vor. Da erreicht sie ein Anruf von ihrem Bruder Kai, den sie seit Jahren nicht mehr gesprochen hat. Er reisst sie aus ihrer arbeitsorientierten Welt und konfrontiert sie mit der gemeinsamen belasteten Vergangenheit.
Zu viel Verantwortung
Als bei der Mutter Multiple Sklerose diagnostiziert wird, ist Anne elf, Kai 17 Jahre alt. Der Alltag wird immer mehr von der Krankheit bestimmt. Schubweise verliert die Mutter ihre Selbstständigkeit. Die Kinder übernehmen dadurch immer mehr Verantwortung, für die sie eigentlich noch viel zu jung sind. Die Belastungen nehmen zu. Gleichzeitig verlieren sie ihre kindliche Unbeschwertheit. Gerade weil die Mutter jede Hilfe von Aussenstehenden ablehnt, müssen die Kinder dafür sorgen, dass der Alltag funktioniert. Doch die Krankheitsschübe kommen in immer kürzeren Abständen. Schliesslich willigt die Mutter in eine dreiwöchige Reha ein. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Vergangenheit bekommt einen Deckel – bis Kai sich nach Jahren wieder bei seiner Schwester Anne meldet.
Eine Schafherde ermöglicht einen Perspektivenwechsel
Kais Anruf kommt Anne ungelegen. Emotionen sind ihr ein Gräuel. Viel lieber widmet sie sich ihrer Arbeit. Da sind Sachlichkeit und Effizient gefragt. Gefühle verwirren und behindern nur. Nun aber ersucht ihr Bruder sie um eine Bleibe. Nur wenige Nächte, bis er in das Wohnheim in Lübeck einziehen kann. Andere Bezugspersonen scheint er nicht zu haben. Nur Anne. Doch die will nichts mehr mit ihrem Bruder zu tun haben. Ihr Zorn, der viel mit der Vergangenheit und Kais Verhalten zu tun hat, ist grenzenlos. Anne will keine Nähe zu ihrem Bruder aufkommen lassen. So schnell wie möglich möchte sie ihn wieder loswerden und sich wieder ihrem Referat widmen. Sie beschliesst, Kai sofort nach Lübeck zu fahren. Unterwegs geraten sie jedoch in eine Schafherde, die ein Weiterkommen verunmöglicht. Jetzt endlich erhalten die Geschwister die nötige Zeit, sich den Themen der Vergangenheit zu stellen.
«Aber jetzt frage ich mich, wie Kais Sicht der Dinge klingt. Ob sie mehr Wahrheit beinhaltet als meine. Ob es so etwas in diesem Fall überhaupt gibt: die eine Wahrheit. Fakt ist, es gibt nur eine einzige Realität, in der wir alle leben; gleichzeitig sind unsere Erfahrungen so unterschiedlich, dass es genauso gut unendlich viele Realitäten sein könnten.»
Die unterschiedliche Sicht
Janine Adomeit lässt Anne aus ihrer Sicht die Geschichte erzählen. So erfährt man von dem Mädchen, das zusammen mit ihrem sechs Jahre älteren Bruder die Pflege der Mutter nach deren MS-Diagnose übernommen hat. Immer wieder springt die Autorin von der Gegenwart, in der Anne als Pharmareferentin kurz vor einem wichtigen Vortrag steht, zurück in die Vergangenheit. Mit der Zeit entsteht so das Bild einer ehemals glücklichen Familie, die wegen der Krankheit und ihren Folgen zerbricht. Zu gross sind die Herausforderungen und die Belastungen – vor allem für die Kinder. In Ihrem Roman veranschaulicht die Autorin die Auswirkungen auf die Entwicklung von Anne und Kai. Jahre später zeigen sich die Folgen der kindlichen Prägung: Arbeit und Sucht heissen die Bewältigungsstrategien. Anne lebt nur für ihre Arbeit und Kai muss sich seinem Suchtverhalten stellen.
Janine Adomeit gelingt auf glaubwürdige und einfühlsame Art eine nicht leicht zu verdauende Geschichte zu erzählen. Ohne Effekthascherei beschreibt sie den Alltag der Familie und welche Folgen die Krankheit für alle Beteiligten hat. Die Auseinandersetzung mit den Themen Schmerz und Sucht und den Therapiemöglichkeiten vermittelt darüber hinaus medizinisches Wissen, das verständlich beschrieben wird.
Fazit
Schlicht und schnörkellos erzählt Janine Adomeit die Geschichte einer glücklichen Kleinfamilie, die schliesslich an Krankheit, Stolz, Scham und seelischen Verletzungen zerbricht. Diese eindringliche Lektüre regt nicht nur zum Nachdenken an, sondern vermittelt auch ein tiefes Verständnis für die Herausforderungen, die mit Schmerz und Sucht verbunden sind.

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