Ginsterburg
- Klett-Cotta
- Erschienen: Februar 2025
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Die Wurzel des Übels wächst im Alltäglichen.
Dunkle Zeiten nähern sich der idyllischen Kleinstadt Ginsterburg. Nach der Machtergreifung der Nazis sind die Auswirkungen auch hier zunehmend zu spüren. Während einige dies mit Schrecken erkennen, nehmen es andere gar nicht wahr - oder sehen darin sogar Möglichkeiten für sich. So oder so beginnt für alle ein neuer Alltag. Im Mittelpunkt von Arno Franks neuem Roman „Ginsterburg“ stehen unter anderem die alleinerziehende Buchhändlerin Merle mit ihrem Sohn Lothar, der vom Fliegen träumt, aber zunehmend in die Fänge der Hitlerjugend gerät, Eugen, der kritische Feuilletonist der Lokalzeitung, der sich trotz Ehe der selbstbewussten Merle immer mehr annähert, der Blumenhändler Gürckel, der die Zeiten zu nutzen weiß und sich bis zum Kreisleiter aufschwingt, der Papierfabrikant Jungheinrich, der die besten Geschäfte seines Lebens macht, und der Arzt Hansemann, der völlig neue Chancen für sich wittert. Ein facettenreicher, aufwühlender Roman über den Alltag in einer deutschen Kleinstadt in den Jahren 1935, 1940 und 1945.
Journalist und Schriftsteller
Geboren 1971 in Kaiserslautern studierte Autor Arno Frank zunächst Kunstgeschichte und Philosophie, später absolvierte er die Deutsche Journalistenschule. Frank ist Publizist und arbeitet als freier Journalist vor allem für den SPIEGEL, die taz und den Deutschlandfunk. Zuletzt erschienen von ihm bei Klett-Cotta die Romane „So, und jetzt kommst du“ (2017), der auf autobiographischen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend basiert, und „Seemann vom Siebener“ (2023), ein kleines literarisches Juwel, das von einem Tag im Freibad handelt.
Im Vergleich dazu wirkt Franks neuer Roman „Ginsterburg“ wie ein literarisches Schwergewicht. Schon während seiner Arbeit am „Seemann“ entfaltete sich die Idee zum aktuellen Roman. Die Erzählungen seiner Großmutter über die Bombennächte in Bonn hätten ihn nie richtig losgelassen, so Arno Frank. Mit historischen Romanen, insbesondere über die NS-Zeit, begibt man sich als Autor aber unweigerlich auf ein anspruchsvolles Feld. Aber Frank meistert dies mit historischer Genauigkeit und großer sprachlicher Eleganz. Der Roman besitzt Tiefe, der Hintergrund ist akribisch recherchiert - bis hin zu den Romanen in Merles Buchladen. Eins wird überdeutlich: Frank schreibt nicht leichtfertig, sondern nimmt das Thema ebenso ernst wie seine Figuren.
Was die Zeit mit uns macht
Der Roman spielt im fiktiven Ginsterburg, dem Sinnbild einer deutschen Kleinstadt. Dieser Mikrokosmos bietet die Bühne für ein Figurenensemble, das den Querschnitt der Gesellschaft repräsentiert. Frank zeigt dabei den Alltag in der Zeit der Nazi-Herrschaft in den Jahren 1935, 1940 und 1945 auf. Es geht um glühende Nazis, Karrieremenschen, Weggucker, Mitläufer, Täter, aber auch ums Überleben in schweren Zeiten. Aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln erfährt man die Veränderungen, die die Kleinstadt und ihre Einwohner im Laufe der Jahre erleben. Dabei greift der Autor vereinzelt auch auf historische Figuren zurück, wie etwa dem verträumten, naiven, unbelasteten dreizehnjährigen Jungen Lothar Sieber, der am liebsten Falter sammelt, später aber ein gefeierter Pilot der deutschen Luftwaffe wird. Es sind Sätze wie diese, die Lothar zu seiner Freundin Gesine spricht, als er eine gefangene Forelle töten will, die lange nachhallen: „,Ich kann‘s nicht, sagte er verblüfft. […] ,Was kannst du nicht?‘ ‚Grausam sein. Töten. Ich kann es nicht.‘ Gesine lächelte aufmunternd: ‚Das lernst Du schon noch!‘“
Erzählen, wie es war
Arno Frank will verstehen, was die Zeit und die gesellschaftlichen Bedingungen - die Umstände, die außer uns liegen - mit einem machen. So nähert er sich schrittweise seinen Figuren, lässt ihnen Raum, beobachtet sie, ist neugierig, wie sie sich unter dem gesellschaftlichen Druck und der Verführung des Nazi-Regimes entwickeln. Frank spürt der Frage nach, warum Menschen in den Faschismus abgleiten. Ähnlich wie dem Autor ergeht es dem Leser: Man hört den Protagonisten zu, will selbst verstehen, warum sie so handeln, wie sie es tun. (Mit-)Leid und Verständnis stehen Wut und Fassungslosigkeit gegenüber. Dabei ist „Ginsterburg“ weit davon entfernt, ein belehrender Roman zu sein, der die Zeit und seine Menschen verurteilt. Rückblickend und außerhalb von Zeit und Raum stehend kann man immer moralisch sein. So etwas ist Frank zum Glück völlig fremd.
Vielleicht ist „Ginsterburg“ auch deshalb kein klassischer Kriegsroman. Im Gegenteil: Kriegshandlungen kommen eher am Rande und beiläufig vor. Und noch etwas ist besonders: Der Holocaust und das große Leid der Juden werden weitestgehend ausgespart und nur in leisen Tönen bzw. Andeutungen aufgegriffen. Arno Frank maßt sich nicht an, die Perspektive der Opfer einzunehmen und verstehen zu können. Aber es gibt Figuren wie Uta, eine moderne Frau und fähige Architektin, deren jüdischer Mann Theodor inhaftiert wurde. Auch wenn man ihn als Leser nie kennenlernt, erfährt man doch von seinem Schicksal. Doch vielmehr steht die große Liebe zwischen beiden im Mittelpunkt, die so weit geht, dass Theodor trotz Trennung von Uta für sie in ihrem Zufluchtsort Ginsterburg immer realer wird. Grenzen überschreitende Liebe - auch das ist in düsteren Zeiten möglich und stimmt tröstlich.
Unterschiedliche Blickwinkel
„Ginsterburg“ erinnert in seiner multiperspektivischen Erzählweise an Romane wie Arno Geigers „Unter der Drachenwand“ und in seiner collagenartigen Darstellung an Edlef Köppens „Heeresbericht“. Franks Roman zeigt in eindringlichen Bildern auf, was seit dem Zweiten Weltkrieg für jede Generation geboten war, aber zunehmend in Vergessenheit geriet: sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit sie sich nicht wiederholt. Dies ist gerade in den heutigen Zeiten, in denen es immer weniger Zeitzeugen gibt, dringender denn je. Die Erinnerungskultur wird sich ändern, eine - wie es Geoffrey Hartman es nennt - intellektuelle Zeugenschaft ist notwendig. Die zukünftigen Generationen müssen sich mit großem Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft dem Thema nähern. Arno Franks Roman lädt dazu regelrecht ein, auch weil die Lektüre schmerzt, wütend macht, aber in einer gewissen Weise auch verständnisvoll wirkt.
Fazit
„Ginsterburg“ thematisiert Leid, Liebe, Schuld, Verantwortung, vor allem aber einfach die Menschen in einer unmenschlichen Zeit, die wieder aktuell zu werden droht. Die Wurzel des Übels wächst im Alltäglichen. Arno Franks ausdrucksstarker, bewegender Roman ist ein Angebot für alle, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, hinzugucken und zuzuhören. Ein Roman, den man sich als Schullektüre wünschen würde.

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