Kleine Episoden über die Liebe in all ihren Facetten.
Da ist die Frau im beigen Mantel, die endlich den Mut findet, ihren Mann zu verlassen. Monsieur Fontaine, der ohne seine Frau zum Essen kommt. Eine Internetliebe, die sich erstmals real trifft. Oder die junge Mutter, die sich nach einem Abend zu zweit sehnt und in der Gegenwart ihres Partners doch kein Glück verspürt. In kurzen Episoden erzählt Claire Renaud von diesen und anderen Momenten der Liebe.
„Sie waren im Online-Universum aufeinander zugeflogen und, und nun war jeder an der Mauer des anderen abgeprallt, wie ein verletzter Vogel benommen nach unten gerutscht.“
Wir haben alle schon in einem Restaurant oder Café Menschen beobachtet und uns unsere eigenen Gedanken gemacht. Die französische Autorin Claire Renaud nimmt uns in ihrem zweiten Roman mit in eine Brasserie nach Paris und setzt uns gleichfalls als stille Beobachter an die Tische der Gäste. Hier kreuzen sich Schicksale, berühren sich Blicke, werden Entscheidungen getroffen – oder aufgeschoben. Es entsteht ein raffiniert gezeichnetes Mosaik menschlicher Beziehungen, das die Liebe in den Mittelpunkt stellt.
Die Liebe ist hier aber nie kitschig und nie glatt. Sie ist authentisch, widersprüchlich, ungewiss, mal zart romantisch und manchmal auch bitter. Dabei sind es alltägliche Szenen, denen wir beiwohnen und die Menschen mit ihren Empfindungen näher kennenlernen. Claire Renauld lässt ihre Figuren reflektieren, erinnern, vermuten, hoffen, bangen, erobern und scheitern. Die Perspektiven wechseln von Geschichte zu Geschichte, stets bleibt der Blick nah an der Gedankenwelt der jeweiligen Erzählerinnen und Erzähler. Dabei spielt die Autorin überaus geschickt mit der Ambivalenz von Selbstbild und Fremdwahrnehmung, Selbstzweifeln und Erwartungshaltungen, mit dem, was gesagt wird – und das, was unausgesprochen bleibt. Und während wir uns von Tisch zu Tisch begeben, entsteht ein feines Wechselspiel voller Zwischentöne, das nach und nach eine besondere Intimität entfaltet.
Verbunden werden alle Episoden durch zwei konstante Figuren: Cyril, Barkeeper in der Brasserie, der sich Tag für Tag bemüht, das Herz der Bedienung Marion zu gewinnen. Das gestaltet sich gar nicht so einfach, denn auch die beiden tragen ebenfalls besondere Liebeserfahrungen auf den Schultern. Ihre zarte Annäherung bildet einen beständigen Gegenpol zu den wechselnden Episoden – wie ein stilles Band, das alles zusammenhält.
Fazit
Claire Renaud erzählt nicht von der einen großen, dramatischen Liebe – sondern von den vielen kleinen: den unvollendeten, den verlorenen, den traurigen, den schmerzhaften, den gescheiterten, den tragischen, den hoffungsvollen, den beginnenden. Die Liebenden am Canal Saint-Martin ist ein kleines und ruhiges Buch, das nur schwer aus der Hand zu legen ist. Denn jedes Mal, wenn man es zur Seite legen möchte, schaut man sich doch noch einmal kurz in der Brasserie um – zu dem Paar am Nebentisch etwa, bei dem gerade eine neue Geschichte beginnt. Aurélie wird ihrem Francois heute erzählen, dass sie ein Kind von ihm erwartet…

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