Wir hätten uns alles gesagt

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Birgit von Domarus
851001

Belletristik-Couch Rezension vonDez 2023

Ein bunter Strauß von Geschichten.

Der vor 25 Jahren so erfolgreiche Debütroman „Sommerhaus später“ von Judith Hermann erfährt in dem von ihr jetzt vorliegenden Band „Wir hätten uns alles gesagt“ eine Art Schlüssel für das bisherige Schreiben. Die drei Teile des Buches stellten die Grundlage für die im Sommer 2022 in Frankfurt gehaltenen Poetik Vorlesungen dar, mit deren Erläuterungen Judith Hermann beginnt. Es ist also nicht ein Roman mit einem Handlungsstrang, den man verfolgen kann, es sind eher Reflexionen auf das Leben und den menschlichen Begegnungen. Da Judith Hermann dafür bekannt ist, wenig von sich und ihrem Leben preiszugeben, überrascht dieser Band mit Einzelheiten dieses Lebens. Mit ihrer Aussage, dass sie am eigenen Leben entlang schreibt, bekommt das Buch autofiktionale Züge. Aber es wäre nicht Judith Hermann, wenn selbst an dieser Aussage gezweifelt werden kann. Es beginnt mit dem Titel des Buches, der in der Möglichkeitsform suggeriert, dass es möglich wäre, alles zu sagen, aber sicherlich wurde nicht alles gesagt. Vieles in diesem Buch bleibt offen, ungesagt oder ist nicht zu unterscheiden von Traum und Wirklichkeit. Es gibt viele Bezüge zu ihren bisher veröffentlichten Büchern, das schon genannte „Sommerhaus später“, „Daheim“, „Aller Liebe Anfang“, oder „Lettipark“.

Überraschende Begegnung

Der Erzählerin begegnet in einem Berliner Spätkauf dem Psychoanalytiker, der sie zehn Jahre auf seiner Couch betreut hat. Sie ist überrascht, oder fast ängstlich ihm auf eine andere Art zu begegnen, als in der Therapie. Aber sie überwindet sich und sucht den direkten Kontakt, der aber genauso arm an Gesprächen ist, wie auf seiner Couch. Es stellt sich heraus, dass ihr zu Bewusstsein kommt, dass sie die ganzen 10 Jahre Monologe im Beisein des Psychoanalytikers geführt hat, ohne eine Reaktion von ihm erlebt zu haben. Die genaue Gesprächsanalyse will Judith Hermann jedoch für sich behalten. Ein Schutzraum durch Verschweigen. Diese Begegnung führt sie jedoch zurück in das Leben, das sie damals geführt hat. Ihre Freundin Ada mit ihren Kindern, Freunde, ein spezieller Freund Marco und der Onkel, alle im Haus der Großmutter an der Küste. Ein freies Leben, ohne Konventionen und Verpflichtungen. Das war ihre sogenannte Wahlfamilie, die umso wichtiger war, da die wirkliche Familie kompliziert und ohne Geborgenheit erlebt wurde.

Familie

Zu dieser Familie kommt Judith Hermann im zweiten Teil des Buches. Die Großeltern mit abenteuerlichen Vergangenheiten, die für sie als Kind oftmals nicht begreifbar waren. Mit einer wunderbaren Detailfreude werden die Erinnerungen an die Großeltern spürbar. Gerüche, Angewohnheiten und selbst die gekochten Gerichte meint man selbst zu erfahren und zu riechen. Der Vater depressiv und darauf aus, die Erzählerin auf spielerische Art zu quälen, die Mutter als Alleinverdienende ständig abwesend oder viel zu abgearbeitet, haben das Zuhause zu einem Trauerhaus gemacht, wie die dort lebende Großmutter es bezeichnet hat. Die Flucht in Träume und in Vorstellungen war die Folge dieser familiären Misere. Aber es findet sich in den beschriebenen Erinnerungen kein roter Faden, an dem man sich langhangeln kann, um die Kindheits-und Lebensgeschichte nachzuvollziehen. Es bleiben immer wieder Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Schilderungen, oder es bricht ab und endet im Schweigen über die weiteren Wege der Familie.

Das Provinzschloss

Wir hätten uns alles gesagt, wenn wir in dem Schloss über Nacht eingeschlossen wären, so die Aussage der Erzählerin zu ihrem Freund/Mann/Gefährten. Der lässt nicht locker und will wissen was Alles ist. Darum dreht sich der letzte Abschnitt des Buches. Es geht um „Aufmachen“, um das Brechen von Schweigen und um Preisgabe vom eigenen Ich im Schreiben und in der Wirklichkeit. Judith Hermann stellt fest, dass mit dem Alter die Konturen des Schreibens schärfer und durchdachter werden. Diese Beobachtung bringt sie dazu, mehr zu Verschweigen als zu offenbaren.

Obwohl dieses Buch eines ihrer persönlichsten Veröffentlichungen ist, haben sich die Geheimnisse eher verstärkt, als aufgelöst. Mit großer erzählerischer Sprachgewalt lässt sie den Leser hoffen, von Abschnitt zu Abschnitt mehr zu erfahren und die Geschichten zu Ende zu lesen. Aber es gibt einen Ansatz in den letzten Seiten des Buches, in dem Judith Hermann ankündigt einen neuen Versuch zu machen, noch einmal von vorne anzufangen, um sich einzufangen.

Fazit

Das vielleicht persönlichste Buch von Judith Hermann wird dem Leser mit einem bunten Strauß von Geschichten um ihre Biografie erzählt. Diese Erzählungen werden eingebettet in ihr Ringen um das Schreiben und deren Wahrhaftigkeit. Da viele Bezüge zu ihren bisherigen Werken Eingang in das Buch finden, wäre es nicht schlecht, diese vorher gelesen zu haben.

Wir hätten uns alles gesagt

Judith Hermann, S. Fischer

Wir hätten uns alles gesagt

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