Zen oder die Kunst ein gutes Buch zu schreiben
Die Schriftstellerin Ruth findet das Tagebuch der 16-jährigen Japanerin Nao und einige auf Japanisch geschriebene Briefe. Eventuell mit der Drift gekommen, wurden sie, gut in einer Hello-Kitty-Lunchbox verstaut, an einem kanadischen Strand angespült. Ruth beginnt zu lesen und taucht bald ein in das Leben der jungen Frau, die schon einiges durchmachen musste, aber auch viel Liebe durch ihre Urgroßmutter Jiko erfahren hat. Ruth fragt sich, ob Nao noch lebt oder ob sie dem verheerenden Tsunami 2011 zum Opfer gefallen ist.
Eine Zen-Priesterin schreibt Romane
Ruth Ozeki ist die Tochter eines US-Amerikaners und einer Japanerin. 1956 in den USA geboren, studierte sie Englisch und Asian Studies am Smith College in Massachusetts, sowie Japanische Literatur an der Universität Nara in Japan. Nach ihrem zusätzlichen Studium des Zen-Buddhismus erhielt sie 2010 die Ordination als Zen-Priesterin. In ihren Werken verbindet sie oft aktuelle Themen mit ganz gezielt persönlich gehaltenen Inhalten, denen sie ihren eigenen Stempel aufdrückt. „Geschichte für einen Augenblick“ erschien bereits 2013 im englischen Original und 2014 im Hardcover-Format auf Deutsch.
Nao spricht viele Themen an
Naos Tagebuch befindet sich in einem aufbereiteten Bucheinband des Werkes „A la recherche du temps perdu“ von Marcel Proust. Teilweise ist dieser Titel auch Programm für ihre eigenen Notizen, denn sie sucht nach der Identität ihres Großonkels, der als Kamikaze-Flieger im 2. Weltkrieg diente. Seine Briefe sind es dann auch, die Ruth neben dem Tagebuch in der Lunchbox findet. Doch Nao erzählt auch von ihrem eigenen Leben, das so schön in den USA begann und dann zu einem Albtraum in Japan wurde. Sie schreibt in ihrer ganz eigenen Sprache von dem Mobbing, das sie ertragen muss; von den Übergriffen ihrer Mitschüler und dem Leben in einem Hochhaus in Tokio. Sie berichtet von ihrer Familie und ganz besonders von einem Aufenthalt bei ihrer Urgroßmutter Jiko. Die über 100-Jährige Zen-Nonne lebt in einem abgelegenen Kloster. Sie führt Nao in die Lehren des Zen-Buddhismus ein und gibt ihr wieder Kraft zum Überleben Zuhause. Durch Naos Tagebuch und Ruths Leben in Kanada spricht Ruth Ozeki eine unglaubliche Anzahl an Themen an. Die aktuelle Geschichte kommt dabei genauso zum Zuge, wie die Zeit des 2. Weltkrieges. Die japanische Kultur, der Zen-Buddhismus und sogar die Quantenmechanik spielen eine große Rolle. Gleichzeitig verbindet Ozeki die Familiengeschichte Naos mit der von Ruth in Kanada, die ziemlich viel von der Autorin selbst hat.
Interessant und anspruchsvoll
Manchmal scheint die Geschichte fast überfrachtet, so viel wurde in sie hinein gepackt. Lange Passagen zum Zen-Buddhismus und auch zur Quantenmechanik machen die Lektüre anspruchsvoll. Während Ozeki als Zen-Priesterin die religiöse Materie sehr gut beherrscht, gleitet sie mehr als einmal esoterisch ab, wenn sie sich der Quantenmechanik widmet. Mit angenommenen parallel verlaufenden Zeiten interpretiert sie hier viel mehr hinein als ein Physiker es je tun würde. Und natürlich muss einmal mehr Schrödingers Katze herhalten – als Gedankenexperiment und als ursprünglicher Name für Ruths nervigen Kater. Dazu kommen zahlreiche japanische Begriffe oder ganze Sätze, die zwar immer in Fußnoten übersetzt zu lesen sind, aber dennoch die Lektüre zusätzlich anspruchsvoll machen.
Kombination aus Familiengeschichte und weltanschaulichem Rundumschlag
Wenn man dieses Buch wirklich genießen will, muss man sich Zeit lassen. Die fast 600 Seiten umfassende Lektüre verlangt aufgrund der Themenvielfalt und der japanischen Begrifflichkeiten sehr viel vom Leser. Doch wenn man dies beherzigt und sich dann auf Nao und Ruth einlässt und ihnen folgt, wird man mit der geglückten Kombination aus Familiengeschichte und globalen Themen belohnt. Man sollte aber schon Interesse an Philosophie und Weltgeschichte haben, ansonsten könnten die langen diesbezüglichen Passagen vielleicht eher ermüden und dem Roman ein unverdientes vorzeitiges Aus bescheren.
Fazit
Ein anspruchsvolles Buch der leisen Töne! Ruth Ozeki spricht eine Vielzahl Themen an, verarbeitet sie in zwei Familiengeschichten und spickt diese noch mit einer Portion Japanisch. Wer sich auf „Geschichte für einen Augenblick“ einlässt, braucht daher viel mehr Zeit als „einen Augenblick“ um die komplexe Geschichte aufzunehmen und die fast 600 Seiten zu lesen. Doch dann wird man von Naos Schilderungen und Ruths Gedanken gefesselt und erhält zusätzlich noch genügend Denkanstöße zur Reflexion der mannigfaltigen Themen.
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