Nachleben

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Carola Krauße-Reim
881001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2022

Trotz Distanz sehr emotional

Es brauchte erst den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2021, dass Abdulrazak Gurnah intensiver in den Blickpunkt des deutschsprachigen Leserpublikums geriet, denn zu diesem Zeitpunkt war keins seiner ins Deutsche übersetzten Werke mehr im Buchhandel zu erhalten. Der tansanische Autor wurde in Sansibar geboren und floh als Jugendlicher nach Großbritannien. Dort studierte er, promovierte und lehrte als Professor für Englisch und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Seine Werke beschäftigen sich stets mit der Frage nach Identität und den Auswirkungen der kolonialen Herrschaft auf die Gesellschaft und auf das einzelne Individuum. So auch in seinem neusten Roman „Nachleben“.

Vier Leben im kolonialen Ostafrika

Khalifa lernt den etwas zwielichtigen Kaufmann Amur Biashara kennen und fängt als Buchhalter in dessen Unternehmen an. Gesellschaftliche Zwänge führen zur Heirat mit Asha, die er erst am Tag der Trauung kennenlernt, die ihm aber immer fremd bleiben wird. Bald tritt Ilyas in ihr Leben. Er lief als Kind von Zuhause weg, wurde in einer Missionsschule in Deutsch unterrichtet. Er findet nun seine Schwester Afiya wieder, bevor er als Askari in den Krieg zieht und nie wieder gesehen wird. Hamza wurde von Deutschen zum Kriegsdienst gezwungen, von ihnen schwer misshandelt und kommt nun als Arbeiter zu Khalifa. Er ist von den Erfahrungen gezeichnet, findet aber in Afiya eine Liebe, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Ihr Sohn, ebenfalls mit Namen Ilyas, kommt als Stipendiat nach Deutschland und stößt hier auf Spuren seines verschollenen Onkels, die ihm dessen Schicksal verraten.

Distanzierte Betrachtung in ebenso distanzierter Sprache

Abdulrazak Gurnah sucht weder nach Antworten auf die Zeit des Kolonialismus, noch will er anklagen oder gar verurteilen. Er nimmt eine Außenposition ein und betrachtet von dieser Warte aus das Geschehen. Er lässt seine Protagonisten agieren und beschreibt das in distanzierter und wenig emotionaler Sprache. Und dennoch ist man schon nach wenigen Sätzen mitten drin in der Problematik des Kolonialismus und den Lebensumständen der nicht näher definierten ostafrikanischen Bevölkerung. Die Armut, Grausamkeit und die ständige Suche nach Heimat, Familie und Geborgenheit ziehen sich durch die ganze Geschichte, die trotz der gegebenen Distanz sehr emotional ist.

Ein Nachdenken über diese Zeit und über die Nachwirkungen bis in unsere Gegenwart sind ein zwangsläufiges Resultat der Lektüre. Diese macht auf den letzten Seiten zwar den Eindruck, dass Gurnah etwas an Schreiblust verloren hat, so schnell er die Zeit der Suche nach Ilyas Schicksal abhandelt, die aber gerade in diesem Stadium den Ringschluss schafft und afrikanische und deutsche Geschichte abermals tragisch verbindet.

Fazit

Ein epochaler Familienroman der anderen Art. Nobelpreisträger Gurnah wahrt inhaltliche und sprachliche Distanz und schafft es dennoch die Geschichte hoch emotional werden zu lassen. Der Blick auf die globalen und individuellen Probleme und Nachwirkungen des Kolonialismus ist absolut empfehlenswert!

Nachleben

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