Blue Skies

Blue Skies
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Yannic Niehr
721001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2023

Familiendrama um 5 nach 12

Eines Tages sticht Cat, die noch etwas planlos durch ihr Leben stolpert, der Hafer, und sie kauft sich einen Tigerpython namens Willie. Während ihr Freund Todd als Rum-Vertreter Erfolge feiert, genießt sie ihr neues Dasein hier in Kaliforniern und träumt von einer Social-Media-Karriere – da kann eine exotische Schlange, die sie sich um die Schultern legt wie eine Federboa, um sich selbst Stärke und Ausstrahlung zu verleihen, ja nur nützlich sein. Beständiger scheinen die Dinge zu werden, als Cat und Todd beschließen, zu heiraten, und sich Kinder ankündigen. Doch eine schreckliche Tragödie soll die junge Familie entzweireißen …

Bruder Cooper, seines Zeichens Insektenforscher, geht eher in seinem Job auf und setzt sich sehr für den Naturschutz ein. Seine Freundin Mari, die sich akademisch mit Zecken befasst, scheint perfekt zu ihm zu passen. Doch auch hier treten Beziehungsprobleme auf den Plan. Schließlich kommt Cooper mit der unkonventionellen Elytra zusammen. Doch ein unerwarteter Zwischenfall, der eine schwere Operation nach sich zieht, soll dazu führen, dass Cooper sein Leben komplett umstellen muss …

Ottilie hingegen versucht in ihrem Heim in Florida, den Ansprüchen ihres Sohnes zu genügen und auf die Umwelt zu achten, indem sie nun ihre eigenen Heuschrecken zum Verzehr züchtet. Gleichzeitig muss sie für Tochter Cat da sein und ihre eigenen Routinen nicht vernachlässigen. So stellt sie sich selbst stetig zurück, um weiterhin der Kitt sein zu können, der die Familie zusammenhält …

Auf den ersten Blick klingt dies nach ganz normalen Familienquerelen – wenn, ja wenn nicht Cats erster Tigerpython plötzlich den zweiten, den sie sich dazu besorgt, einfach verspeisen würde, nicht ein Zeckenbiss dazu geführt hätte, dass Coopers Arm amputiert werden muss, Ottilie die Heuschrecken nicht unvermittelt unter den Fingern wegstürben, es nicht Hitzewellen, Hurrikane und Fluten hagelte und Kaliforniern nicht plötzlich in Flammen stünde. Denn der seit langem prophezeite Klimawandel ist da, und die Rache der Natur ist gnadenlos. Kann das Familienleben – und das Leben der Menschheit insgesamt – innerhalb dieser neuen Umstände einfach weitergehen ...?

Ave atque vale

Tom Coraghessan (T.C.) Boyle studierte nach einer turbulenten, auf Krawall gebürsteten Jugend Geschichte und Englisch an der State University of New York, wo er auch seine Leidenschaft für die Literatur und die existentialistische Philosophie entdeckte. 1977 erwarb er an der University of Iowa einen Doktorgrad in englischer Literatur des 19. Jahrhunderts. Neben zahlreichen veröffentlichten Kurzgeschichten und Romanen wie Hart auf hart oder Sprich mit mir doziert er an der University of Southern California und ist zudem Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Nicht nur seine exaltierte Persönlichkeit und publikumswirksame Selbstvermarktung, sondern auch seine Werke sorgen für Aufsehen, oft humoristische und/oder groteske Meditationen über den Zustand der USA – so auch sein aktuelles Buch Blue Skies, welches nun auf Deutsch im Hanser-Verlag erschienen ist.

Leben und Tod und wieder Leben

Was, wenn Klimawandel ist, und keinen interessiert’s? Die Frage, die auch die „Fridays for Future“-Generation bewegt, ist treibende Kraft in Boyles Roman. Er bleibt seiner Linie treu und beschreibt das Innenleben seiner Charaktere, ihr Umfeld und ihre Beziehungsdynamiken kraftvoll und lebendig, doch auch voller leisem Humor, der sich aus der Spannung zwischen dem manchmal recht nüchternen Verhalten seiner Figuren und den Umständen, angesichts derer sie dieses an den Tag legen, ergibt. Denn trotz zahlreicher Warnungen ist der Point of No Return erreicht: Die Natur schlägt zurück und die Welt, wie wir sie kennen, stellt sich auf den Kopf. Trotzdem muss das Leben ja weitergehen.

Der Roman veranschaulicht auf eindrückliche Art und Weise, wie sehr wir alle Spielball der Naturgewalten sind, vermittelt gleichzeitig aber auch deren ehrfurchtgebietende Schönheit. Zudem erzählt er trocken und süffisant von der menschlichen Fähigkeit, weiterzumachen wie bisher, selbst wenn alles um einen herum zusammenbricht. Manche wehren sich gegen das Unvermeidliche, einige tun ihr Bestes, um die Welt ein Stückchen schöner zu hinterlassen, andere verschließen die Augen und wiederum andere sind einfach zu ignorant, um überhaupt die Zeichen der Zeit zu erkennen. Inmitten des ganzen Chaos kann diese kleine Familie schlussendlich nichts anderes tun, als zu versuchen, die eigenen Wunden zu lecken und irgendwie noch zusammenzuhalten. Hier verbindet Boyle „natural realism“ auf seine ureigene, originelle, witzige und geistreiche Art mit Grundprinzipien des Existentialismus.

„Ist es nicht gut, ab und zu mal fassungslos zu sein? Das durchbricht eingefahrene Muster“

So erschütternd manche der Vorkommnisse sind und so anregend zu lesen Boyles Stil ist, geht der Geschichte leider recht früh die Puste aus. Um die Aussichtslosigkeit und Unauflöslichkeit der Lage darzustellen, hat er sich dazu entschieden, keinerlei Lösungen oder gar eine Katharsis anzubieten. Leider verliert sich dadurch aber zum Ende hin auch immer mehr der rote Faden, sodass das Buch irgendwann wie eine bloße Aneinanderreihung von Episoden erscheint, die Variationen der jeweils selben Themen darstellen. Zwar wird die sich über einige Jahre hinziehende Familiengeschichte, kontrastiert mit den sich zuspitzenden Naturkatastrophen, konsequent erzählt, jedoch ohne auf ein inhaltliches oder emotionales Ziel zuzusteuern. Ein stärkerer narrativer Drive hätte die Nachwirkung des Leseerlebnisses insgesamt verstärkt. So bleibt der Eindruck, dass Boyle das, was er sagen wollte, auf weniger Seiten besser hätte sagen können.

Fazit

Blue Skies ist ein klassischer T.C. Boyle und damit sowohl speziell als auch unterhaltsam. Ihm gelingt es in diesem Buch nicht nur, dringliche Problemstellungen unseres aktuellen kulturhistorischen Moments aufzugreifen, sondern diese sogar gleichzeitig hoffnungslos und hoffnungsvoll zu betrachten. Um das volle Potenzial der starken Prämisse zu entfalten, hätte der Roman aber schärfer konturiert und pointierter sein müssen. So bleibt zwar ein durchweg empfehlenswertes Leseerlebnis, das aber nicht ganz das Buch der Stunde ist, das es hätte werden können.

Blue Skies

T. C. Boyle, Hanser

Blue Skies

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