Der letzte Sommer in der Stadt

Der letzte Sommer in der Stadt
Der letzte Sommer in der Stadt
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Laura Müller
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Belletristik-Couch Rezension vonApr 2022

Ein Gang ins Verderben mit offenen Augen

Aufbruch ins Leben

Es sind die 70er Jahre und Leo Gazzarra hat gerade die Schule beendet. Endlich darf er anfangen zu leben. Dazu gehört für ihn hauptsächlich, sich von seinen Eltern zu distanzieren und nach Rom zu gehen. Der Zufall will es und man bietet ihm an, eine Stelle als Redakteur in der ewigen Stadt anzunehmen - ein Karrieresprung und Türöffner, den er sich auf keinen Fall entgehen lassen möchte. Euphorisch verlässt er Mailand in der Gewissheit, von nun an ein besseres und erfolgreicheres Leben zu führen.

Aufstieg und Fall

Wild und stürmisch wird Leo von der ewigen Stadt begrüßt. Sie eröffnet ihm tatsächlich alle Möglichkeiten, die er sich erträumte. Durch einen Zufall ergattert er eine Wohnung und nachdem seine Stelle in der Redaktion plötzlich aufgelöst wird, findet er schnell, über einen neuen Freund, einen Job beim Corriere dello sport. Als ihm schließlich eine Stelle beim Fernsehen angeboten wird, scheint seine berufliche Karriere sicher.

Aber das Stadtleben setzt ihm zunehmend zu. Tag für Tag verschlingt es ihn aufs Neue und spuckt ihn meist erst in den späten Morgenstunden betrunken und übermüdet wieder aus. Als er eines Tages Arianna kennenlernt, scheint Besserung in Sicht.

Selbstaufgabe ohne Umwege

Leo ist ein Antiheld, der sich durch eigenes Verschulden mehr und mehr in den Abgrund manövriert. Jung und naiv verlässt er seine Heimatstadt Mailand, um in Rom ein neues Leben zu beginnen. Rasch knüpft er vor Ort Kontakte, die ihn tief ins römische Milieu mitnehmen. Dem Alkohol kann er sich nicht entziehen; Versuche sich von ihm zu lösen scheitern. Arianna, eine aufbrausende Römerin, ist er hilflos ausgeliefert und verfallen. Aber bei den Bemühungen ihren Ansprüchen zu genügen, offenbaren sich seine Schwächen schonungslos.

Freude und Leid unserer Zeit

Alle Wege führen nach Rom. Die Möglichkeiten des modernen Menschen sind Glück und Fluch in einem. Durch immer neue Erfolge und Verantwortungen, die er übernehmen muss, scheitert er schließlich an seiner eigenen Überforderung. Durch seine Freiheit beraubt er sich seiner eigenen Kräfte und muss tatenlos dabei zusehen, wie er fällt.

Die sprachliche Brillanz des Textes korreliert leider immer wieder mit der eindimensionalen inhaltlichen Umsetzung des Themas. „Bediene dich deines eigenen Verstandes!“, will man als Leser dem Protagonisten zurufen, aber stattdessen muss man ihm dabei zusehen, wie er als hilfloser, schwacher und labiler Mann immer tiefer fällt. Niemanden trifft dabei die Schuld aber auch niemand kann ihm aus seiner Misere heraushelfen.

Eine sich an das Thema knüpfende Sichtweise findet sich auch beim leidenden Menschen nach Thomas Mann (bei ihm war es der Künstler). Dieser muss scheitern, weil er in einer uneingeschränkten Abhängigkeit von seinem Umfeld lebt. Leider wirkt dieser Ansatz heute aus der Zeit gefallen, da ihm seine flexible und individuelle Dimension fehlt. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass das Buch bereits in den 70er Jahren verfasst wurde, entfaltet es nicht die Glaubwürdigkeit, die man sich als Leser wünscht.

Trotz allem lässt das Buch einen so schnell nicht wieder los. Wie aufgeklärt und frei ist der Mensch und können wir - und wenn ja, warum können wir - heute überhaupt noch scheitern? Diese Fragen bleiben im Raum zurück, wenn das Buch ausgelesen ist.

Fazit

Ein ambivalentes Leseerlebnis, das trotz seiner Widersprüche noch eine Weile nachhallt und eine Diskussion darüber entfacht, was dem freien Willen heute noch entgegenstehen könnte.

Der letzte Sommer in der Stadt

Gianfranco Calligarich, Paul Zsolnay Verlag

Der letzte Sommer in der Stadt

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