Schmerz und Trost der erinnernden Trauer
Ananke ist tot.
Der Anruf kommt an einem kalten Februartag und teilt die Zeit unwiederbringlich in ein davor und danach. Ananke, die Tochter, die Schwester und seit jeher die Freundin von ichor. Noch am Abend fährt sie nach Hause, gemeinsam mit ihrem Zwilling, an den Ort der Kindheit, den Anfang von allem.
„zwei familien zusammengewachsen zu einer, gemeinsam essend, gemeinsam feiernd, vier eltern und sieben kinder“
Die Todesanzeige in der Zeitung manifestiert die unfassbare Wirklichkeit.
Die Namen der Trauernden: Bas, Roan, Fred, Vaska und Ash, fast auch die eigene Familie. Eltern wie Swann und Avi. Geschwister wie Eden und Egg.
„familie ist erinnerungen.“ Eine erste Erinnerung an Ananke gibt es nicht. Sie war schon immer da. In Fotoalben kleben die Geburtsanzeigen nebeneinander. Ein Sein ohne sie nicht vorstellbar. Für das Ende des gemeinsamen Jetzt fehlen die Worte, auch am Grab.
Am Sarg ein Kuss zum Abschied. Die Trauerrede eine Textpassage von Paul Auster, der schreibt
„i would like to dance on the wire until i die.“
„mit der trauer und dem schmerz, mit den fragen und erinnerungen aus fünfundzwanzig Jahren“
Die Erinnerung an das letzte Wiedersehn hängt als Rauchkristall an einer Silberkette um den Hals.
Das schlechte Gewissen der versäumten Anrufe, des aufgeschobenen Besuchs.
Ein angemieteter Stauraum, allein mit Anankes greifbarem Andenken, wie ein Altar, wo die Vergangenheit eingefangen ist.
Aber auch die Momente des geteilten Verlusts. Beim Gang zum Friedhof mit den Wahlgeschwistern. Verbunden im Leid mit Zwilling Eden in der gemeinsamen Wohnung.
Zusammen mit den Freunden Vienna und Cato und der Übereinkunft, dass sie angesichts der unzähligen gemeinsamen Erinnerungen unabhängig von Ananke gar nicht wirklich existieren.
Die Tradition als Fluch hinterlässt ein „konglomerat aus erinnerungswelten“, nicht deckungsgleiche Wiederholungen aus Jahren.
Nach hundert Tagen bohrt die Frage nach dem wie und warum ungemindert.
„wie einfach doch alles wäre, wenn es bloß wie früher wäre.“
In der Erschöpfung der letzten Monate nimmt ein Gedanke Gestalt an. Erst, wenn es etwas gibt, das frei macht, wird Schlaf wieder möglich sein, wird eine neue Normalität sich finden.
Am Tag, als Anankes Herz genau hundertfünfzig Tage stillsteht, gibt Vienna dieser Gewissheit Wortform: „ananke ist immer auch da, und ich sage euch: das geht so nicht weiter, das macht uns kaputt.“ Und dann steht ein Vorschlag im Raum, dies zu ändern. Ebenso unwirklich, wie unaufhaltsam, aus einer tiefen Notwendigkeit heraus, erfolgt seine Umsetzung Der Aufbruch zu einer gemeinsamen Reise, um einen Weg zu finden, Ananke loszulassen, ohne sie zu verlieren.
Kunstvoll und hochemotional
Die schweizerische Schriftstellerin Anna Stern erzählt von der Zeit nach Anankes Tod aus der Perspektive von Ichor, der seelenverwandten Freundin, von Ananke so benannt. Für den Bericht dieses alles bestimmenenden Trauerprozesses wählt sie eine ganz besondere Form, indem sie die Geschehnisse, Gedanken und Empfindungen der Gegenwart, den Erinnerungen der Vergangenheit sichtbar gegenüberstellt. So lesen die Lesetr*innen auf der linken Buchseite Ichors Beschreibungen und Reflexionen der Echtzeit, während auf der rechten Buchseite dazu korrespondierend Erlebtes und Gefühltes aus der gemeinsamen Zeit mit Ananke aufersteht. Die Erinnerung wird zum Zufluchtsort vor der Endgültigkeit des Verlusts. Um sie bis aufs kleinste Detail zu konservieren, dürfen keine neuen Erfahrungen hinzukommen, in der Hoffnung, Ananke gehen lassen zu können, wenn einmal alles erinnert worden ist. Die Angst vor dem Vergessen weitet sich auf ihre aktuelle Lebenssituation aus und Ichor beginnt jegliches Geschehen aufzuschreiben, es damit festzuhalten, wahrzumachen, so auch die Lücke, die Ananke in ihrem Leben hinterlässt.
Ebenso wie Stern in schonungslosen Worten den existenziellen Schmerz der Zurückgebliebenen beim Lesen spürbar macht, überträgt sich auch das heimelige Gefühl des Glücks und der Geborgenheit aus den beschriebenen Sequenzen einer Schweizer Büllerbü-Kindheit durch Bilder, Gerüche und Klänge. Subtil und ausdrucksstark reichen Stern oft nur Andeutungen, um neben einer untrennbaren Verbundenheit auch Spannungen und Phasen der Entfremdung erahnen zu lassen.
Die Innenschau verharrt nicht bei der Wahlverwandten, sondern schließt Ichors leibliche Familie mit ein. Besonders die Symbiose mit ihrem Zwilling wird wertfrei neben die innige Vertrautheit zu Ananke gestellt. Die individuelle Leiderfahrung der Charaktere lenkt den Blick auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit Tod, Trauer und die Trauernden. Im gleichen Alter wie ihre Protagonisten nimmt sich die Autorin mit „Jugendweisheit“ diesen Tabuthemen an, bemüht den schmalen Grat zwischen Akzeptanz und reglementiertem Unverständnis auszuloten.
Dabei begleitet sie ihre Figuren auf dem zu gehenden Weg der kräftezehrenden Trauerbewältigung hin zu einem Abschied ohne Abkehr, zu einem hoffnungsvollen Neuanfang.
Fazit
Wie kann sein, was nicht sein darf? Anna Sterns Skizze eines Verlusts liest sich über weite Strecken bestürzend schmerzhaft. Berührt mit wehmütigen Glücksmomenten. Dabei kann ihre eindrucksvolle Darstellung auch zur Begegnung mit der persönlichen Erinnerungskultur und Trauererfahrung für die Lesenden werden. Ein Buch, das beschreibt wie im Jetzt, alles hier sein kann. Der Neubeginn im Einklang mit der nicht verlierbaren Erinnerung, als tröstliche, sehr schöne Vorstellung.
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