Die Verteidigung der Kindheit
Alfred Dorn wehrt sich gegen das Leben, weil es zum Tod führt. Ihm ist die Zukunftsorientiertheit der Menschen ganz unverständlich. Wenn von ihm beruflich und gesellschaftlich Erwachsensein verlangt wird, imitiert er Erwachsene. Sein Nicht-Erwachsensein muß er andauernd verbergen. Erwachsen werden, das hieße zugeben, daß man nicht geworden ist, was man werden wollte. Er war ja fast ein Wunderkind. In der Schule, am Konzertflügel, im Freundeskreis. Der Einserabiturient studiert Jura. Nach dem Tod der Mutter muss Alfred Dorn erst recht dafür sorgen, dass die Vergangenheit nicht vergeht. Er muss die Kindheit verteidigen gegen Gegenwart und Zukunft. Er wird zu einem Fanatiker des Datums, des Faktums. Er will alles so bewahren, festhalten, wie es wirklich gewesen ist. Sätze, Träume, Tage, Jahre. Und nicht weniger als gar alles. Und alles ganz genau. Er kämpft gegen die Zeit wie Don Quijote gegen die Windmühlen. Seine Karriere als Jurist stagniert um so mehr, je ausschließlicher er seine Kraft seinem Vergangenheits-Kult widmet. Der Regierungsdirektor Alfred Dorn sieht allmählich ein, daß er sich erst im Ruhestand ganz diesem Projekt widmen kann. Einmal soll die große Feindin Zeit auf einen treffen, der ihr gewachsen ist. Er will auf sein Projekt vorbereitet sein, wie noch nie jemand vorbereitet gewesen ist. Manchmal, im Moment der Erschöpfung, hofft er, dass seine Vorbereitung schon das sein könnte, was sie vorbereiten soll: die Verteidigung der Kindheit.
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