AMEN

- übersetzt von Helga van Beuningen

- HC, 160 Seiten

AMEN
AMEN
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Carola Krauße-Reim
891001

Belletristik-Couch Rezension vonJul 2022

Eine virtuos erzählte Geschichte

Archäologe Samuel Hagenau stürzt ins Bodenlose als seine Frau Joyce ihn verlässt. Und dann findet er auch noch eine verkohlte Leiche in der Nähe seiner momentanen Ausgrabung, dem Gelände des Durchgangslagers Westerbork in den Niederlanden. Schnell findet die Polizei heraus, dass es sich bei dem Toten um ein lange gesuchtes RAF-Mitglied handelt. Für Sam tun sich Fragen nach Verlust, Verantwortung und Reue auf.

Eine zeitgenössische Stimme erzählt

Der jüdisch-niederländische Autor Marcel Möring wurde 1957 in Enschede geboren. Seine bisher sechs Romane fanden immer großen Anklang bei den Kritikern. Schon sein Erstlingswerk „Mendel“ wurde mit dem Debütpreis der Niederlande gekürt, weitere Auszeichnungen folgten. In „Amen“ verbindet er abermals seine eigene Familiengeschichte mit großen Fragen der Gegenwart, die er dann wieder zurück auf das ganz persönliche Niveau seines Protagonisten reduziert.

Drei große Themen

Möhring schneidet in „Amen“ drei große Themen an: den Verlust der großen Liebe, die NS-Vergangenheit mit dem Lager Westerbork und die Zeit des RAF-Terrorismus. Die sich auftuenden Fragen nach Schuld, Reue, Sühne und Verantwortung verflechtet er virtuos in den Gedankengängen seines Protagonisten Samuel Hagenau, den er aus der Ich-Perspektive erzählen lässt.

Der Archäologe in Sam versucht nachzuvollziehen, wie das Leben des Toten im jahrzehntelangen Untergrund war; was ihn zu den Taten getrieben hat, die ihn dorthin führten; welche Reue er vielleicht empfunden hat. Dabei nimmt er eine, aus der NS-Zeit resultierende Schuld an, die wiederum u.a. in Lagern, wie Westerbork entstand, in denen jüdische Familien, wie Sams eigene gelitten haben. Doch alle Gedanken werden durch die Trennung von Joyce dominiert, die Sam mit endloser Trauer und vielen Fragen erfüllt. Doch es gibt eine Entwicklung, die vor allem der Leserschaft einen völlig neuen Blickwinkel auf Sam und Joyce ermöglicht.

„The wider Landscape“ …

… so bezeichnet Sam den Blick über das Offensichtliche hinaus. Diese erweiterte Sicht auf die Beziehung von Sam und Joyce erhält die Leserschaft im Laufe der Geschichte. Möring eröffnet schleichend immer mehr Nuancen, welche die wahren Charaktere dieser beiden Figuren offenlegen und einen veränderten Blick über das anfangs als offensichtlich Angenommene zulassen. Diese Änderung lässt Möring ganz subtil geschehen, indem er Sam immer tiefer in seine trauergetrübten Gedanken versinken lässt, die oft anklagend sind, aber dennoch sehr viel über die komplizierte Beziehung von ihm und Joyce aussagen und Sams eigene tatsächliche Wesenszüge zeigen.

Eine Erzählung in mehr als einem Stil

Protagonist und Ich-Erzähler Sam ist eigentlich eine Doppel-Figur – der Archäologe und der Verlassene. Der Archäologe geht rational an das Geschehen rund um den Toten heran. Er stellt sich Fragen, deren Antworten der Polizei weiterhelfen können; er schafft auch hier den professionell erweiterten Blick. Diese Gedankengänge sind in einem nüchternen und flüssigen Stil gehalten, der sich völlig ändert, sobald Sam in sein persönliches Desaster abgleitet. Jetzt wird der Stil komplex, die Gedanken werden teilweise nicht mehr ausformuliert: „Es gibt viel Früher. Immer mehr. Und das Gewicht von Früher wird immer größer“, „Die Aufhebung des „Ich“, Hingabe. Diese Dinge.“ oder einfach nur „Manchmal aber ...“.

Dieser Wandel im Stil fordert Aufmerksamkeit, lässt aber auch viel Nähe zu Protagonisten zu. Leider lässt Möring viele Anglizismen in den Text einfließen, die eher behindern als ergänzen. Genauso, wie die Eigenart einen Satz zu verdrehen bis alle Sichtweisen ausgelotet sind: „Dieser Anfang vom Ende, das Ende vom Anfang, das Ende vom Ende“. Oder er spielt zu sehr mit den Worten: „Dass es einen Anfang gibt, der anfängt, und ein Ende, das endet, und dass das Ende anfängt und der Anfang endet ...“. Diese stilistischen Mittel können einmalig Interesse forcieren, bei häufigen Wiederholungen aber genau das Gegenteil bewirken.

Fazit

Möring spielt auf den Klaviaturen der Sprache. Er ermöglicht virtuos beschriebene, tiefe Einblicke in die Gefühlswelt eines Verlassenen, der gleichzeitig als rational denkender Archäologe agieren darf und damit die Leserschaft zu fesseln weiß. Jedoch ist die Bereitschaft sich auf diesen komplexen, oft noch mit Anglizismen durchsetzten Stil einzulassen, Grundvoraussetzung für einen Genuss dieses Buches, das wahrlich keine Lektüre für Zwischendurch ist.

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