Das Flüstern der Feigenbäume
- Kein & Aber
- Erschienen: Oktober 2021
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- OT: The Island of Missing Trees
- übersetzt von Michaela Grabinger
- HC, 448 Seiten
Pauschale Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund
Die britisch-türkische Schriftstellerin Elif Shafak ist eine der mahnenden Stimmen der Gegenwart. Immer wieder fordert sie Gleichberechtigung und Wahrung der freiheitlichen Menschenrechte. In ihren teilweise ausgezeichneten oder nominierten Romanen verknüpft sie persönliche Schicksale mit diesen Forderungen, meist vor historischem Hintergrund. In Das Flüstern der Feigenbäume erzählt sie die tragische Liebesgeschichte eines griechisch-türkischen Paares auf Zypern, der Insel, die seit einem brutalem Bürgerkrieg geteilt ist.
Ein Feigenbaum erzählt
Die 16-jährige Ada wächst in London auf. Sie kämpft mit dem Tod ihrer Mutter vor einigen Monaten, und mit dem emotionalen Rückzug ihres Vaters. In ihre Einsamkeit platzt ihre bis dahin ihr unbekannte Tante Meryem, die ihr die ganz persönliche Geschichte ihrer Familie erzählt – von der tiefen Liebe zwischen Kostas, dem Griechen, und Defne, der Türkin, die durch den Bürgerkrieg auf Zypern getrennt wurden und sich erst viele Jahre später wieder treffen und Adas Eltern werden. Nur einen Steckling von einem alten Feigenbaum haben die beiden aus ihrer Heimat nach England mitgebracht; er ist die einzige Verbindung zu ihrem alten Leben. Dieser inzwischen zum Baum herangewachsene kleine Zweig erzählt von ihrer gemeinsamen Vergangenheit auf Zypern, der Insel, auf der einst Griechen und Türken zusammenlebten, die eine einzigartige Natur hatte, und die angefüllt war von dem Geruch nach Jasmin und reifen Feigen.
Historischer Hintergrund rettet den Plot
Das Flüstern der Feigenbäume ist eine klassisch-tragische Liebesgeschichte, die in ihrem Aufbau nichts Neues bietet. Lediglich die Verknüpfung mit der jüngeren Vergangenheit Zyperns lässt sie interessant werden. Allerdings sollte man sich schon im Vorfeld mit dem Schicksal der Mittelmeerinsel befasst haben, um dem politischen Geschehen dann problemlos folgen zu können. Der Einstieg in die Geschichte ist etwas langatmig und holprig und verlangt schon ein wenig Durchhaltevermögen vom Leser, doch dann entwickelt sie sich und wird mit jeder Seite interessanter. Der Feigenbaum fesselt in seinen Erinnerungen mit der Atmosphäre eines Zyperns, das zwar vom Misstrauen zwischen den Volksgruppen geprägt ist, aber dennoch ein Zusammenleben möglich macht. Er erzählt die tragische Entwicklung während der Abwesenheit Kostas‘, die Gewalt während des Bürgerkrieges und die Passagen, die außer ihm keiner miterlebt hat – er ist das historische Gedächtnis, allerdings auch manchmal die zu sehr ausufernde Stimme für mehr Umweltbewusstsein, die den Lesefluss ausbremsen kann. Seine Erinnerungen werden durch Meryems ergänzt, welche die rein persönliche Familiengeschichte schildert. Beide zusammen lassen die ansonsten eindimensionale Liebesgeschichte doch noch zu etwas Besonderem und Interessantem werden.
Meryem ist eine Naturgewalt
Auch in der Figurenzeichnung geht die Autorin eher ausgetretene Pfade. Ada leidet, wie viele der zweiten Generation von Einwanderern, an Entwurzelung. Sie hat keinen familiären Hintergrund, der sie in ihrer emotionalen Ausnahmesituation auffangen könnte. Ihr Vater Kostas wird als emotional gehemmter und introvertierter Wissenschaftler geschildert; ihre Mutter als traumatisierte Intellektuelle, die mit ihren Erlebnissen nicht leben kann – diese drei Charaktere passen ins Bild, sind aber keine Novitäten in einer Liebesgeschichte – anders der Feigenbaum, dem eine eigene Individualität zugesprochen wird, und ganz besonders Tante Meryem, die wie eine Naturgewalt in das tägliche triste Allerlei von Kostas und Ada rauscht und als Gedächtnis und Antriebskraft der Familie einen treffend gezeichneten und humorvoll dargestellten Charakter bildet. Sie glaubt genauso an die Kraft gut gekochter, reichhaltiger Mahlzeiten, wie an die Anwesenheit von böswilligen Dschinns, und hat ein nahezu lexikales Wissen an Weisheiten und Sprichwörtern, das sie immer und in vollem Umfang bemüht. Neben dem historischen Hintergrund ist sie der Magnet, der an die Geschichte bindet.
Fazit
Das Flüstern der Feigenbäume ist eine klassisch-tragische Liebesgeschichte, die allerdings durch den historischen Hintergrund punktet. Nach etwas schwierigem Einstieg kann man sowohl an dem persönlichen Schicksal von Defne und Kostas teilhaben, als auch an dem der Mittelmeerinsel, das zudem von zwei sehr ungewöhnlichen Protagonisten – einem Feigenbaum und der quirligen Meryem – erzählt wird.
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