Wo auch immer ihr seid

  • btb
  • Erschienen: September 2021
  • 1

- HC, 304 Seiten

Wo auch immer ihr seid
Wo auch immer ihr seid
Wertung wird geladen
Carola Krauße-Reim
901001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2021

Die schwierige Suche nach der eigenen Identität

Khuê Phḁm ist Journalistin und Buchautorin. Mit Wo auch immer ihr seid legt sie nun ihr Romandebüt vor. Phḁm, Kind vietnamesischer Einwanderer, wurde durch die gegenwärtige Diskussion über Rassismus und die daraus resultierende gesellschaftliche Spannung animiert, über ihre eigene Situation nachzudenken, und entschied sich, ein „erzählerisches Sachbuch“ über die Vergangenheit ihrer Familie anzugehen. Doch sie wusste sehr wenig von der Geschichte ihrer Verwandten und nutzte die Recherche, um „alles Mögliche von ihnen zu erfragen“. Im Laufe des Schreibprozesses sah sie allerdings von der Idee eines Sachbuches ab, entschied sich dagegen für einen Roman, da sie „so freier schreiben konnte“. Herausgekommen ist ein Buch über die Frage nach dem Woher und dem Wohin, die gerade Menschen der zweiten Generation von Einwanderern so oft beschäftigt.

Drei Personen, zwei Zeitebenen

Khuê Phḁm erzählt ihre Geschichte aus Sicht von Kieu, einer 30-jährigen Journalistin aus Berlin, die sich schwer tut mit ihrem vietnamesischen Hintergrund und die nur sehr wenig von ihrer Familiengeschichte weiß. Als ihre Großmutter in Kalifornien stirbt, begleitet sie ihre Eltern zur Testamentseröffnung und lernt dort erstmalig ihre weitläufige Verwandtschaft näher kennen. Die Spannungen zwischen ihrem Vater Minh, seinem Bruder Son und ihrer beider Mutter wurden nie thematisiert und brechen sich nun Bahn; sie reichen zurück bis in die Zeit des Vietnamkrieges, der die Familie auseinanderriss. Was damals geschah, erfahren wir durch Minh und Son in Rückblicken, die einen differenten Blick auf den Krieg werfen und gleichzeitig das Drama der Familie erzählen.

Eine faszinierende Geschichte voll Emotion und Tiefe

In einer klaren, präzisen und fesselnden Sprache wird hier eine Familie regelrecht analysiert und dennoch mit so viel Gefühlen verknüpft wird, dass das Ergebnis ein Roman ist, der fordernd Fragen stellt und gleichzeitig eine Geschichte erzählt, die spannend, erschütternd, emotional und manchmal auch humorvoll ist - gerade wenn die endlosen und mit Intensität betriebenen Diskussionen über Belangloses beschrieben werden. Durch die Rückblicke wird der Leser, genauso wie Kieu, aus der gegenwärtigen heilen Welt von Little Saigon in den Staaten katapultiert und nach Saigon geworfen, um dort mit der grausamen Realität des Vietnamkrieges konfrontiert zu werden, dessen Wahrnehmung ganz unterschiedlich war und der dem traditionsgebundenen Leben der Vietnamesen oft die Basis entzog, aber auch Auswirkungen auf die im Ausland lebenden Familienangehörigen haben konnte.

Diesen Balanceakt zwischen dem Jetzt und dem Damals hat die Autorin bravourös gemeistert. Durch ihre exakten Charakterisierungen verdeutlicht sie glasklar die individuellen Probleme der Protagonisten und bindet sie gleichzeitig in eine Zeitgeschichte ein, die mindestens genauso fesselnd ist. Die Frage „Wieviel braucht es, um die eigene Herkunft zu verstehen?“ wird in dieser Familiengeschichte intensiv behandelt und für den Leser bewegend aufgearbeitet.

„Wo kommst du her?“

Diese Frage hat zwei Bedeutungen: Was für die Autorin ein Aufruf zur Selbstfindung war, ist für den Leser eine Art Spiegel unserer Gesellschaft. Wie oft stellen wir anderen die Frage nach ihrer Herkunft, bloß weil sie ein anderes Äußeres haben, ohne dabei daran zu denken, dass sie auch Deutsche sein könnten? Der Roman thematisiert die Suche nach der Geschichte einer Familie und dem Ort der individuellen Zugehörigkeit genauso wie den Umgang der Gesellschaft mit Einwanderern und deren Kindern. Phḁm hat das Porträt einer Familie entworfen, die gezeichnet ist durch Verluste, Missverständnisse, Flucht und Entwurzelung. Damit hat sie sich selbst die Frage nach dem „Woher“ beantwortet und der Leserschaft die Aufgabe der Reflektion über unsere Gesellschaft gegeben, die gerne einmal zu schnell urteilt.

Fazit

Wo auch immer ihr seid ist ein Roman, der bewegend und mit Wucht eine Familiengeschichte erzählt, die vom Vietnamkrieg gezeichnet ist und Fragen nach Identität aufwirft. Ocean Vuong bezeichnet Khuê Phḁm und ihr Werk als „eine mutige und große Leistung von einer neuen, starken Stimme“ - dem kann ich mich nur anschließen!

Wo auch immer ihr seid

Khuê Pham, btb

Wo auch immer ihr seid

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »Wo auch immer ihr seid«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Film & Kino:
The Crown - Staffel 3

Die Queen in ihrer vordergründig repräsentativen Rolle ist eine zeitgeschichtliche Ikone, sodass der Erfolg der seit 2016 bei Netflix laufenden Serie „The Crown“ nicht verwundert. Die dritte Staffel markiert allerdings einen Umbruch: Die Royal Family ist in den 60er-Jahren angekommen und viele Rollen werden neu besetzt, da auch die Blaublüter nicht vor dem Altern gefeit sind. Titel-Motiv: © Des Willie / Netflix

zur Film-Kritik