Der Nachtwächter

  • Aufbau
  • Erschienen: März 2023
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- OT: The Night Watchman

- aus dem Englischen von Gesine Schröder

- HC, 496 Seiten

Der Nachtwächter
Der Nachtwächter
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Kirsten Kohlbrei
901001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2024

Selbstbehauptung im Existenzkampf der indigenen Bevölkerung Nordamerikas.

Thomas Wazhashk arbeitet nachts als Wachmann in der neu gebauten Lagersteinfabrik im Reservat seines Stammes, der Turtle Mountain Band of Chippewa Indians. Nach der Umsiedlung und des Verlusts der Jagdgebiete reichen die geringen Erträge der Landwirtschaft auf dem wenigen verbliebenen Land den Reservatsbewohnern kaum zum Überleben. Wer, wie Thomas, eine Festanstellung findet, kann sich glücklich schätzen. So auch seine Nichte Patrice, die in der Fabrik als Fachkraft für die Bearbeitung von Rohdiamanten den Lebensunterhalt ihrer ganzen Familie verdient.

Aufkündigung gültiger Verträge durch den Beschluss der Terminierung

Thomas Wazhashk ist aber vor allem Vorsitzender des Stammesrats der Chippewa und damit zuständig und verantwortlich für alle politisch relevanten Belange der Gemeinschaft. Als am 1. August 1953 der amerikanische Kongress eine Resolution verabschiedet, die bestehende Verträge zwischen der Regierung und der indigenen Bevölkerung für nichtig erklärt, ist er zutiefst besorgt. Die darin festgelegte angestrebte Terminierung, die Auflösung aller indianischer Nationen, würde bei Durchführung seinem Stamm und allen american indians die Lebensgrundlage entziehen. Auch der Anspruch auf den letzten zugesprochenen Landbesitz ginge verloren und ebenso auf die staatliche Unterstützung. Doch nicht nur die prekäre materielle Situation sieht Thomas als Bedrohung. Die veränderten Lebensverhältnisse, das aufoktroyierte Leben in den Städten würde letztlich die indigene Identität unaufhaltsam beschneiden und langfristig ausmerzen.

Thomas könnte sich ein Leben ohne die spirituelle Verankerung in der Natur für sich, seine geliebte Frau Rose, seine Kinder und seinen alten verehrten Vater Biboon, der noch auf Bisamjagd ging, nicht vorstellen. Auch nicht für seine Cousine Zhannat, die traditionell erzogen wurde und die alten Zeremonien beherrscht, so dass die Leute inzwischen extra anreisen, um sie um Rat zu fragen. Für sich selber findet Zhannat jedoch leider keine Hilfe und ist voller Angst um ihre Tochter Vera, die nach Minnesota gegangen und dort spurlos verschwunden ist. Genauso wenig sähe Thomas Zhannats zweite Tochter Patrice glücklich zwischen grauen Häuserfluchten. Pixie, die selbstbewusst und verantwortungsvoll das tiefgründige Wissen ihr Mutter mit christlicher Religion sowie besten Zeugnissen vereint und sich dabei mehr vom Leben verspricht, als eine brave Hausfrau- und Mutter zu werden. Seine Befürchtungen gelten aber nicht nur seiner Familie, sondern beziehen auch alle ihm anvertrauten Stammesmitglieder mit ihren ganz persönlichen Geschichten und Schicksalen mit ein.

„Der kleine Kerl tauchte hinunter. Er blieb lange dort unten, sehr lange, und dann, endlich, trieb Wazhashk wieder nach oben. Er war ertrunken, hielt aber die Pfote geballt. Der Schöpfer öffnete Wazhashks schwimmhäutige Hände. Er sah, dass die Bisamratte ein ganz kleines bisschen vom Grund mit ans Licht gebracht hatte.“

Thomas trägt seinen indianischen Namen Wazhashk mit tiefem Zugehörigkeitsgefühl zu seinem Stamm. Emsig und aufopfernd, wie seine Namensgeberin macht er sich daran, das                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Regierungsvorhaben zu verhindern. Seinen Besuch des Umerziehungsinternats hatte sein Vater als Möglichkeit gesehen, den Feind kennenzulernen. Für Thomas gilt es nun, hinter den Charakter und die Beweggründe des Mormonen Senator Watkins, Hauptbetreiber des Terminierungsbeschlusses, zu kommen. Bis an die eigenen körperlichen Belastungsgrenzen gehend, entwirft er während seiner Nachtschichten eine erfolgversprechende Strategie, um bei der Anhörung in der Ausschusssitzung im Kongress bestehen zu können. Er findet dafür engagierte Unterstützer in den eigenen Reihen und initiiert eine Unterschriftenaktion gegen die Resolution sowie eine Boxkampfgala, zur Finanzierung der Reise nach Washington. Angeführt von Thomas Wazhashk startet dann im März 1954 eine kleine Delegation in die amerikanische Hauptstadt, um dem Recht auf Selbstbestimmung nachdrücklich Gehör zu verschaffen.

Familiengeschichte als Romanvorlage  

Die amerikanische Autorin Louise Erdrich ist die Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners. Ihr Roman Der Nachtwächter basiert auf der Lebensgeschichte ihres Großvaters, der Anfang der 1950er Jahre den Kampf gegen die Enteignung seines Stammes aufnahm und damit beispielhaft ein Zeichen des Protests der indigenen Bevölkerung gegen den Diebstahl ihres Landes und dem Raubbau an ihrer Kultur setzte. Dabei nahm er selbstlos Einschnitte im Familienleben und Nachteile für die eigene Gesundheit in Kauf. Außer Thomas Wazhashk ist nur sein Gegenspieler Senator Watkins einer realen Person nachempfunden. Pixie, die nach ihrem Onkel als weitere Protagonistin im Mittelpunkt des Romans steht, ist Fiktion. Als starke junge Frau leistet sie nicht nur einen guten Jo, sondern traut sich zukünftig auch ein Studium zu. Im prüden Amerika der Nachkriegsjahre unaufgeklärt, macht sie sich pragmatisch daran, die Sache mit dem Sex für sich zu klären. Sie übernimmt familiäre Verantwortung, wenn sie den gewalttätigen alkoholkranken Vater auf Abstand hält. Ebenso selbstständig geht sie im Sumpf der Großstadt auf die Suche nach der vermissten Schwester. Dramaturgisch gekonnt und inhaltlich bewegend, nimmt Erdrich mit der Schilderung des Schicksals von Vera, parallel zur Haupthandlung, die lauernde urbane Gefahr vorweg. Dabei thematisiert sie schonungslos die Rolle indigener Frauen als Opfer sexueller Ausbeutung.

„wie oft kam eine moderne, berufstätige Frau dazu, bei einem lebenden Bären zu schlafen?

Faszinierend gelingt der Autorin mit der Figur Patrice, die mühelos indigene Tradition in ihren Alltag integriert, auch die spirituelle Vorstellungswelt und den tief verankerten Naturglauben der Indianer spürbar zu vermitteln. Wie selbstverständlich begleitet auch der Geist von Roderick, ein verstorbener Schulfreund von Thomas das Geschehen. Sorgfältig gibt sie den Nebenfiguren charakterlich Kontur und erzählt in vielen Nebensträngen einfühlsam deren Geschichten. Das gilt für Indigene und Weiße gleichermaßen, ganz unabhängig von ihrer Positionierung. Derart anschaulich beschrieben, wird der Reservatsalltag für die Leser*innen wirklichkeitsgetreu lebendig.

Louise Erdrich erzählt nicht nur sehr emotional aus ihrer persönlichen Vergangenheit.Brilliant geschrieben, mit bestürzend ernsten Passagen, ebenso wie mit Abschnitten voll Witz und Ironie, dokumentiert ihr Roman zudem ein Stück amerikanischer Geschichte, die das Miteinander innerhalb der Bevölkerung bis in die Gegenwart prägt und nachvollziehbar macht. Denn auch noch heute ist die soziale Ungleichheit im Alltag Nordamerikas zwischen Weißen und Indigen oft gravierend. Bei statistischen Messwerten wie Lebensstandard, Bildungsniveau, Suchtverhalten oder durchschnittlicher Lebenserwartung schneiden Amerikaner mit indigenem Background generell schlechter ab.

Dennoch ist Erdrichs Buch als Würdigung des Lebenswerks ihres Großvaters ein optimistisches Statement, Missstände nicht mutlos hinzunehmen, sondern sich den Glauben an die eigenen Überzeugungen zu bewahren, dafür zu kämpfen und somit Veränderungen bewirken zu können.

„Mir stockte der Atem, als ich begriff, was meinem Großvater von seinem Nachtwächter-Schreibtisch aus gelungen war.“

Fazit

Der Nachtwächter ist ein packender Roman über das Aufbegehren der amerikanischen Ureinwohner*innen gegen das vom Staat entgegengebrachte Unrecht.  Angestoßen von einer starken Persönlichkeit und kompromisslos mit Unterstützung eines solidarischen Umfelds umgesetzt, bewirkt Vertrauen in den selbstgewählten Weg des Widerstands, die Umkehr einer scheinbar aussichtslosen Situation. Mühelos spannt das Epos dabei den Bogen von der familiären Hommage zum authentischen Dokument eines bedeutsamen Kapitels amerikanischer Geschichte.  Facettenreich, empathisch und bewegend erzählt, bereitet Louise Erdrich ihren Leser*innen ein emotionales Leseerlebnis.

Der Nachtwächter

Louise Erdrich, Aufbau

Der Nachtwächter

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