Sein Name war Annabel

  • btb
  • Erschienen: Juli 2021
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- OT: Annabel

- aus dem Englischen von Elke Link

- HC, 448 Seiten

Sein Name war Annabel
Sein Name war Annabel
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Yannic Niehr
921001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2021

Zwei Seelen

Labrador, Neufundland, Ende der 60er Jahre: Treadway und Jacinta Blake sind einfache Leute, die im kleinen Städtchen Croydon Harbor ein simples, gewöhnliches Leben führen – sie (gebürtige Großstädterin aus St. John’s) als Hausfrau, er (ein waschechter Sohn dieses Landes) als Trapper. Alles andere als gewöhnlich hingegen ist die Geburt ihres Kindes Wayne, das sowohl mit männlichen als auch weiblichen Geschlechtsorganen auf die Welt kommt. Die seltene Ausprägung stellt die liebevollen Eltern vor ungeahnte Herausforderungen. Treadway möchte, dass sein Sohn als Junge aufwächst. Widerwillig erklärt Jacinta sich einverstanden und lässt Wayne im Krankenhaus operieren. Sie wird den Rest ihres Lebens mit dieser Entscheidung hadern und daran beinahe zerbrechen. Später muss Wayne zusätzlich Hormontabletten einnehmen, da seine körperliche Entwicklung in bestimmten Bahnen verlaufen soll. Von seiner wahren Natur erfährt er zunächst nichts.

Nur Thomasina Baikie, eine Freundin Jacintas, die bei der Geburt anwesend war, weiß um das Geheimnis. Insgeheim gibt sie Wayne bei dessen Taufe zusätzlich noch den Namen ihrer eigenen, kleinen Tochter mit, die kurz zuvor unter tragischen Umständen ums Leben kam: Annabel.

Wayne verlebt eine unbeschwerte Kindheit. Eine seiner engsten Vertrauten ist Jugendfreundin Wally Michelin. Sie träumt von einer großen Gesangskarriere – doch ein schrecklicher Unfall soll diesen Traum im Keim ersticken. Nicht nur sie hat damit zu kämpfen, sich im Leben zurechtzufinden: Von seinem Vater lernt Wayne das Land und seine Gegebenheiten kennen, das Holzsammeln, das Handwerk der Jagd. Er interessiert sich für Brückenbau, doch auch für das Synchronschwimmen. Nie passt er exakt in eine Schublade, ist – ähnlich wie Thomasina, der er sich sehr nahe fühlt – ein Freigeist. Stets hat er das Gefühl, dass in ihm noch ein anderer Mensch schlummert, der ihn schon zeitlebens begleitet. Die Dinge nehmen ihren Lauf, und ein erschütterndes Ereignis zwingt Wayne, alles zu hinterfragen – und der ihm innewohnenden Annabel endlich Raum zu geben …

„Der Name Annabel legte sich sanft wie Blütenstaub auf das Kind, neben den Namen, den Treadway ihm gegeben hatte“

Drehbuchautorin und Journalistin Kathleen Winter legt mit Sein Name war Annabel ihren Debutroman vor. Sie selbst ist auf der kanadischen Halbinsel Labrador aufgewachsen, und es gelingt ihr virtuos, die raue, klare Schönheit ihrer Natur und ihrer Bewohner einzufangen. So erschafft sie ein atmosphärisches Setting, das sich sehr echt anfühlt und der Handlung einen authentischen Nährboden bietet.

Ihr literarisches Können stellt Winter auch mit der Geschichte selbst unter Beweis. Ihre Sprache ist oft träumerisch und poetisch, geradezu zärtlich und sehr einfühlsam, entbehrt aber dankbarerweise völlig überflüssiger Sentimentalitäten, platter Wertungen oder Kitsch. Mit spielerischer Leichtigkeit haucht sie ihren Charakteren Leben ein, verleiht ihnen Ecken und Kanten, kommt dabei ohne Klischees und Stereotypen aus. Sie besitzt ein ausgeprägtes Talent dafür, einen die Welt durch die Augen ihrer Figuren sehen zu lassen und diese verstehen zu lernen.

„Er wusste noch nicht, in welcher Welt er leben wollte, aber er hatte begonnen, in alle einen Blick zu werfen“

Immer mal wieder steht das Innenleben einer anderen Figur im Fokus, und alle sind sie individuell und vielschichtig. Im Zentrum der meisten Kapitel allerdings steht Wayne. Es wird ihm nicht gerade leicht gemacht: Nirgendwo fühlt er sich ganz zugehörig, die Medizin betrachtet ihn zumeist mit klinischem, kalten Blick und erübrigt keinerlei Verständnis für sein inneres Empfinden, überall wird ein enges Korsett aufgezwungen – teils sogar mit Gewalt, wie sich in einer harten, hässlichen Szene zeigt, in welcher Wayne von der schieren Bosheit und Häme der Welt eingeholt wird. Doch macht er auch ganz unverhoffte, erfreuliche Erfahrungen, und als er endlich entdeckt, was ihm die ganze Zeit gefehlt hat, dass er immer schon auch Annabel gewesen ist und dies zulässt, eröffnen sich ganz neue, positive Pfade, die an ungeahnte Orte führen.

„In diesem Moment wünschte er sich, sein ganzes Leben wäre nicht immer so ein Geheimnis gewesen und es gäbe mehr Menschen wie ihn, damit er nicht mehr allein in einer Welt sein musste, in der alle einen festen Platz hatten, entweder als Mann oder als Frau“

Stimmigerweise entsteht am Schluss des Buches das Gefühl eines offenen Endes. Thematisch werden nicht alle roten Fäden des Figurenensembles, ihrer versteckten Leidens- und Liebesgeschichten, endgültig miteinander verknüpft, sondern insoweit gewoben, als dass man sie selber nach Beenden des Romans weiterspinnen kann. Doch noch lange nach dem Lesen bleibt die Geschichte eindrücklich in Kopf und Herz haften – eine Geschichte um Geschlecht, Familie und Identität, in der es darum geht, aus der eigenen Vergangenheit und Herkunft Wissen und Kraft zu schöpfen, jedoch nur, um nach vorne zu blicken und den eigenen Weg, die eigene Wahrheit zu finden und zu leben.

Dass der Roman in der Vergangenheit angesetzt ist, erlaubt zudem einen spannenden Dialog mit der Gegenwart. Es gibt noch viel zu tun, doch hat sich auch bereits einiges getan, und die Stimmen nichtbinärer und intergeschlechtlicher Personen finden zunehmend Gehör. Dies sollte auch in der Literaturszene zur Selbstverständlichkeit werden.

Fazit

Kathleen Winters Sein Name war Annabel ist ein einzigartiges, unaufgeregtes, wundervolles Romandebut, das nicht nur berührt, sondern auch den eigenen Horizont erweitern kann – gerade deshalb hervorragende Literatur und ein absolutes Muss!

Sein Name war Annabel

Kathleen Winter, btb

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