Geschichte eines Entwurzelten
Der Autor und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt gehört zu den wohl bedeutendsten Schriftstellern der Holocaust-Literatur. Als Jürgen-Arthur Goldschmidt wird er 1928 in eine evangelische Familie geboren, die bereits im 19. Jahrhundert vom Judentum zum Protestantismus konvertierte. Doch das ließ sie in den Augen der Nazis nicht zu Ariern werden und so mussten die Goldschmidts um ihr Leben bangen. Daher wurden die beiden Brüder Erich und Jürgen-Arthur nach Italien geschickt, wo sie aber nur kurzzeitig in Sicherheit waren. Erst ein französisches Internat ermöglicht ihnen zu überleben. Doch die Brüder entwickeln sich auseinander. Während der ältere Erich sich der Resistance anschließt und eine militärische Laufbahn einschlägt, studiert der Jüngere Germanistik an der Sorbonne in Paris.
Die zahlreichen Werke von Georges-Arthur Goldschmidt haben oft biografische Züge, doch der 2010 verstorbene Bruder verschwindet recht schnell und taucht in den späteren Werken gar nicht mehr auf.
„Was wäre geschehen, wenn ich Arier wäre?“
Diese Frage stellt sich Erich immer wieder. Schon durch die Geburt des kleinen Bruders scheint er der Familie entwurzelt. Während er der Ruhige ist, fordert Jürgen-Arthur die ganze Aufmerksamkeit der Eltern. Die Entfremdung spitzt sich immer mehr zu als Erich nicht versteht, warum er als Jude gesehen wird und daher auf so viel verzichten muss, das ihm wichtig ist. Es entsteht ein ständiges Buhlen um Liebe und Aufmerksamkeit. Das problematische Verhältnis zum Bruder bleibt auch während der Zeit in Italien und Frankreich bestehen. Und dennoch ist da auch eine tiefe Verbundenheit, die sich immer wieder zeigt. Doch die Entfremdung ist stärker und Erich wird immer mehr zum Einzelkämpfer, der nur noch sich vertraut. Die Frage nach der eigenen Identität bleibt bis zum Schluss, denn obwohl Erich sich als Franzose sieht, kann er die Vergangenheit nicht völlig ignorieren.
Stolperstein für den Bruder
Thedel von Wallmoden fragte Georges-Arthur Goldschmidt nach dem Verbleib des Bruders und veranlasste diesen dadurch zu diesem Buch. Lange hat der Autor dieses Thema von sich gewiesen. Als Erich noch lebte, fühlte er sich allein durch seine Existenz verantwortlich für dessen Lebensentscheidungen; als Erich tot war, fühlte er sich als Überlebender schuldig. Doch Goldschmidt stellt sich der Herausforderung und entblößt sich damit auch selbst - in den selbst geschriebenen Betrachtungen des Bruders über ihn. Aber es ist Erich, der ganz im Mittelpunkt steht. Goldschmidt verfasst den Bruderkonflikt in sprachgewaltigen Worten, zeigt Erichs zunehmende Entwurzelung in jedem Satz und offenbart damit auch eine Selbstkritik, die zwischen den Zeilen nur so herausgeschrien wird. Das Buch umfasst nur wenig mehr als 100 Seiten und trifft den Leser dennoch mit voller Wucht.
Fazit
Ein erschütternder Nachruf auf den Bruder. Gewohnt sprachgewaltig und zur Selbstkritik bereit, setzt Georges-Arthur Goldschmidt seinem Bruder Erich einen literarischen Stolperstein, der nachdenklich macht. Obwohl das Buch nur wenig mehr als 100 Seiten hat, ist es wahrlich keine Lektüre für zwischendurch, sondern fordert Aufmerksamkeit und vielleicht auch ein wenig Vorkenntnisse in Sachen Frankreich im 2. Weltkrieg.
Georges-Arthur Goldschmidt, btb
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