Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde

  • Haymon
  • Erschienen: März 2021
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- übersetzt von Maria Weissenböck

- HC, 424 Seiten

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde
Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde
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Yannic Niehr
711001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2021

Sissi war nicht der einzige schillernde Star aus der Riege der Habsburger …

1895 – 2008 ..:

Erzherzog Wilhelm wird als Mitglied der Habsburger-Monarchie geboren, und von Anfang bis Ende ist ihm ein kurzes, aber bewegtes Leben bestimmt: Schon als Kind lernt er sieben Sprachen, erbt die Leidenschaft seines Vaters für die Seefahrt, entdeckt früh seine Liebe zu Männern, durchlebt zwei Weltkriege, setzt sich für die ukrainische Unabhängigkeit ein, wird zum Untergrundkämpfer, zum „Roten Prinzen“, und findet schließlich ein Ende, um das sich - wie um ihn schon zu Lebzeiten selbst - Legenden ranken. Unterstützung erhält er von wenigen, wackeren Mitstreitern – wie Sofia, die ihn schließlich zum Vater macht. Durch alles hindurch geht der rebellische Blaublüter stets seinen eigenen Weg …

Unserer Gegenwart viel näher ist Halyna, die Enkelin, unglücklich in ihrer Beziehung mit Hryz, und auch ihr Sohn Oles macht ihr zu schaffen. Sie möchte sich nicht mit dieser Rolle als Hausfrau und Mutter begnügen; die Grafikdesignerin vermisst das Malen, das Zeichnen und die Kreativität. Vielleicht hilft es ihr ja, hin und wieder im Kopf Reißaus zu nehmen und in alten Geschichten und Erinnerungen an ihren Großvater Wilhelm zu schwelgen …

„Es ist viel produktiver, sich die Identität, der man sich am nächsten fühlt, selbst zu wählen, als sich zwangsläufig mit der abzufinden, die einem von Geburt an mitgegeben wurde“

Eines muss man diesem Werk von Natalka Sniadanko lassen: Es ist durch und durch originell. Selten hat man einen so wilden Trip durch die Geschichte lesen dürfen. Die Autorin verbindet ganz persönliche, teils intime Momente und Vignetten aus dem Leben von Halyna, ihren Ahnen und den Charakteren, die mit ihnen in Kontakt traten, mit den gesellschaftlichen Umwälzungen, die das chaotische Europa des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Dabei springt sie wild in der Zeit hin- und her – dies auch nur selten chronologisch – und mischt frank und frei (oft mit einem Augenzwinkern) Fakt und Fiktion. Dies ist allerdings tatsächlich auch anstrengend. Zwar muss man ihr zugutehalten, dass sie ihre Leserschaft nicht bevormundet oder zu sehr an die Hand nimmt, doch diejenigen ohne einschlägige Vorbildung werden sich in diesem Buch nicht ohne Schwierigkeiten zurechtfinden. Sniadanko liefert gewisse Kontexte sowie ein hilfreiches Glossar im Anhang, aber leicht macht sie es einem nicht. Ihr Epochenhopping ist so eigenwillig wie die zentrale Figur Wilhelms, jedoch leider nicht immer im guten Sinne. Hinzu kommt, dass sich der Handlungsstrang um Halyna und ihre familiären Probleme nur sehr widerstrebend mit dem um die Biographie ihres Großvaters und seiner Familie zusammenfügen lässt. So entsteht der Eindruck eines sehr bruchstückhaften und verwirrenden Narrativs.

„Manchmal verlangt die Ehrlichkeit Opfer“

Die Stärke des Buches liegt dafür ganz klar in Sniadankos Stil und Ausdrucksfähigkeit. Sie schildert die irrsinnigsten Anekdoten aus der untergehenden Habsburger-Monarchie und den unzähligen, darauf folgenden politischen Entwicklungen mit Witz, Einfühlungsvermögen und Intelligenz (zum Glück geht nichts davon der kunstvollen Übersetzung Maria Weissenböcks verloren). Vieles wird sich historisch sicher nicht genauso abgespielt haben, doch die pointierte und authentische Sprache der Autorin macht alles glauben, sodass einem das etwas schwer zu überblickende Figurenensemble sehr ans Herz wächst - allen voran natürlich der kauzige, aber beeindruckende Wilhelm, dessen Abdriften (in mehr als einer Hinsicht) von traditionellen Pfaden ganz klar als Ressource dargestellt wird statt als Hürde. Sniadanko schönt aber auch keine Schattenseiten: Gewalt in zahlreicher Form, Vertreibung, Verzweiflung – die Schrecknisse der (Nach-)Kriegszeit(en) und des Ränkespiels der (entstehenden) Nationen werden unaufgeregt, aber offen geschildert. Doch natürlich erfährt man auch sehr viel Lustiges und Schönes: Gerade die Szenen aus der Kindheit bei Hofe vermitteln ein wohliges Gefühl – und gleichzeitig viel Wissen darüber, wie die Menschen damals ihr Leben gelebt haben. Diese pure Lust am Erzählen macht den Roman trotz allem zu einer lohnenswerten Lektüre.

Fazit

Keine Frage: Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde verlangt seiner Leserschaft intellektuell einiges ab und wird nur ein eher kleines, gewähltes Publikum ansprechen. Doch ist er ein erstaunliches Zeugnis darüber, wieviel in dieser relativ kurzen Zeitspanne der letzten gut hundert Jahre doch passiert ist, und inspiriert dazu, sich mit der (ost-)europäischen Geschichte näher auseinanderzusetzen. Von Natalka Sniadanko wird man sicher noch einiges hören!

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde

Natalka Sniadanko, Haymon

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde

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