Große Freiheit

  • Heyne
  • Erschienen: Februar 2021
  • 0

- TB, 288 Seiten

Große Freiheit
Große Freiheit
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Sandra Dickhaus
851001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2021

Eine Zeitreise zum Kiez der Sechziger Jahre

Man muss sich auf diese Zeitreise einlassen, ohne Wenn und Aber: Rocko Schamoni ist es gelungen, den Leser nach Hamburg - besser gesagt, ins St. Pauli der Sechziger Jahre - zu entführen. Schon nach den ersten Seiten muss man gebannt weiterlesen, ob aus Verwunderung, teilweise Abscheu, Sympathie zu einzelnen Figuren oder der Sensationsgier; man kann es selbst nicht fassen. Wahrscheinlich ist es ein Gemisch aus allem - und dies macht den Roman aus. Rocko Schamoni, seines Zeichens Schauspieler, Musiker und auch Schriftsteller, gibt an, mit der Hauptfigur Wolfgang Köhler, einer Kiezlegende, bis zu seinem Tod befreundet gewesen zu sein. In zahlreichen Gesprächen erfuhr er vom bewegten Leben des einstigen „Hinterwäldlers“, der sich zunächst nirgends so richtig heimisch fühlen konnte.

Wollis Weg vom „Hinterwäldler“ zur Kiezlegende

Wolli beschließt, früh von zu Hause abzuhauen, schlägt sich mehr schlecht als recht mit diversen Jobs durch, bleibt nie lange an einem Ort, lernt immer neue Menschen kennen – bis er auf St. Pauli landet. Irgendwie ist es dort anders, unkonventioneller - freier, aber auch roher und gnadenloser. Wolli beginnt zunächst, Drogen zu verticken, wird dann von seinem angeblichen Freund gelinkt, lernt „Onkel“ kennen, der ihn als eine Art Türsteher vor einer Lokalität engagiert, um die Männer und Frauen hineinzulocken; zudem arbeitet er als Barmann in einer anderen Kneipe. Langsam aber sicher lernt er den Bezirk kennen, schlendert durch einzelne Bars und lebt schließlich in einer Beziehung mit der Prostituierten „Mauli“. Immer mehr begibt sich Wolli ins Rotlichtmilieu, bleibt dabei aber scheinbar der Einzige, der noch Skrupel und sowas wie ein Gewissen hat. Auch lernt er Musiker wie die Beatles kennen, deren Karriere auf der Reeperbahn ihren Anfang nahm, und das Leben in U-Haft. Eigentlich wollte Wolli ja immer Künstler oder Schriftsteller werden, interessiert sich für das aktuelle Geschehen, kennt sich politisch aus und liest die Klassiker der Literatur - ein scheinbar intelligenter, junger Mann. Doch sein Abenteuer- und Freiheitsdrang ist schier unersättlich: Wolli nimmt Drogen, trinkt Alkohol und muss sein Tun immer wieder überdenken - sei es aus eigenem moralischen Antrieb oder seitens des verhassten Ordnungsamtes, welches immer wieder in seinen Lokalitäten auf der Matte steht.

Immer anders als die anderen - vor allem sympathisch

Wolfgang Köhler scheint in der Erzählung immer anders als die anderen Figuren zu sein, jemand, mit dem man sich, so fern sein Alltag dem eigenen auch ist, irgendwie mitfühlen kann. Nie ist er besonders brutal, behandelt Frauen abschätzig oder lässt sich in skrupellose Geschäfte mit hineinziehen. Auch das ganze Geld, welches er verdient, stellt er nicht mit Statussymbolen zur Schau. Er scheint auf dem Boden geblieben zu sein und zu wissen, was gut oder schlecht für ihn ist. Demnach verliert er nie die Sympathie des Lesers. Ob das Geschehen und sein Charakter wirklich so waren, wissen nur sein Freund, der Autor, oder die Menschen, die ihn wirklich kannten - im Zweifel auch nur er selbst. Hat er als Einziger auf dem Kiez nur das Wohl der Menschen im Sinn und eine (fast) weiße Weste? Man mag das glauben wollen.

Sprachliche Annäherung den Kiez

Sprachlich orientiert sich der Roman an den Gegebenheiten, formuliert mal abgehackt, mal ausschweifender, und macht damit die Stimmung auf dem Kiez deutlich. Kurze, eindringliche Dialoge, elliptische Sätze und Umgangssprache lassen den Roman authentischer wirken.

Schade ist, dass nur die jungen Jahre der Kiezlegende erzählt werden; spannende Stationen seines Lebens, die nach seinem Betreiben einer Etage eines Bordells geschehen, werden außer Acht gelassen. Als Wolli seine große Chance wittert (die er sich aber nicht leicht macht), im Rotlichtmilieu aufzusteigen, endet der Roman.

Man erfährt aber hier nicht nur ein Leben auf dem Kiez, wie es heute nicht mehr existiert, sondern bekommt auch einen Einblick in das spießbürgerliche Denken der damaligen Zeit, zeitgeschichtliche Ereignisse, ihre Auswirkungen und wichtige Personen.

Fazit

Schamoni sagt in einem Interview selbst, er habe die Zeit von 1960 bis 1982 aufschreiben wollen, sei aber dann nach etwa 250 Seiten erst zwei Jahre im Leben der Kiezlegende vorangekommen. Ab 1982 verließ Wolli den Kiez, ging mit seiner Frau nach Costa Rica und wollte sich den für ihn wirklich wichtigen Dingen widmen - nämlich dem Malen, Zeichnen und Lesen. Dies gelingt ihm aber nicht. Vielleicht verfasst Schamoni noch eine Fortsetzung seines Romans …

Große Freiheit

Rocko Schamoni, Heyne

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