Der Fremde aus Paris

- OT: The Parisian

- aus dem Englischen von Henning Ahrens

- HC, 736 Seiten

Der Fremde aus Paris
Der Fremde aus Paris
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Carola Krauße-Reim
751001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2020

Der Beginn des Nahostkonfliktes als Hintergrund für ein Familienepos

Zu Beginn des 1.Weltkrieges kommt der junge Palästinenser Midhat Kamal für sein Studium der Medizin nach Montpellier. Er verliebt sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in die junge Jeannette. Doch bald muss er erkennen, dass er ein Fremder bleibt, egal wie sehr er sich anzupassen versucht. Auch nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Nablus kommt er nicht zur Ruhe. Midhat findet sich im Unabhängigkeitsstreben Palästinas wieder und muss gleichzeitig Jeannette vergessen und den Ansprüchen seiner Familie gerecht werden …

Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte

Isabella Hammad legt mit Der Fremde aus Paris einen viel beachteten Debütroman vor, der von der New York Times als eines der wichtigsten Bücher 2019 bezeichnet wurde. Die junge Autorin nimmt das Leben ihres eigenen Urgroßvaters als Inspiration für eine Geschichte, die sich in einer Zeit abspielt, in der Palästina zum Spielball der Mächte wird. Das Osmanische Reich zerfällt, Briten und Franzosen etablieren sich als Machthaber im Nahen Osten. Immer mehr Juden immigrieren nach Palästina, denn die britische Regierung erklärt sich bereit, die Entstehung eines jüdischen Staates zu unterstützen – der Nahostkonflikt beginnt. Als kleine Hilfe für den Leser findet sich ein kurzer Überblick über die Anfänge der palästinensischen und syrischen Nationalbewegung im Anhang des Romans, ebenso ein Glossar eventuell unbekannter arabischer Begriffe. Eine Karte „Palästina unter britischem Mandat 1923“ hilft bei der geographischen Einordnung.

Ein Schreibstil, der zur Geschichte passt

Die Länge des Textes (immerhin mehr als 700 Seiten) verlangt schon einige Ausdauer vom Leser, der Stil aber auch: Ganz in der Tradition arabischer Geschichtenerzähler bedient sich Hammad einer sehr poetischen und blumigen Sprache, die manchmal detailversessen ist, manchmal ausufernd lang bei einer Szene verweilt. Auf diesen Stil muss man sich einlassen, sonst besteht die Gefahr, dass der Leser in der Langatmigkeit stecken bleibt und gelangweilt das Buch nicht zu Ende liest.

Midhat auf der Suche nach Heimat

Der Halbwaise Midhat wächst zwar behütet bei seiner Großmutter in Nablus auf, erfährt aber schon früh, dass er ein Außenseiter ist. Die zweite Frau seines Vaters will ihn nicht in der Nähe haben, seine Mitschüler im Internat in Konstantinopel sind kein richtiger Familienersatz, in Frankreich entpuppt er sich schnell als der exotische Araber aus der Ferne und nach seiner Rückkehr nach Nablus ist er „der Pariser“. Er ist eine verwundete und entwurzelte Seele, die erst nach der Heirat mit Fatima zur Ruhe kommt. Dieser Charakter ist ein tragender Protagonist, der die Geschichte bestimmt, der aber in seiner Schilderung trotzdem sehr blass bleibt. Ständig hat man das Gefühl, nur an der Oberfläche der Figur zu kratzen. Vielleicht wollte die Autorin nicht zu viel von der Seele ihres Urgroßvater preisgeben, vielleicht hat sie selbst nicht in diese eintauchen können, weil sie ihn nur aus Erzählungen kennt – jedenfalls fehlt es an Tiefe und damit an wirklichem Verständnis seitens des Lesers. Auch die anderen Charaktere (und es sind jede Menge) bleiben oberflächlich und recht farblos; dennoch fesseln sie den Leser in ihrer Verschiedenheit an den Roman und lassen ihn eintauchen in ein arabisches Familienleben. Damit man bei den vielen Namen nicht den Überblick verliert, hat die Autorin eine Personenliste vorangestellt, die mit drei Seiten Umfang schon zeigt, dass man es hier mit vielen Charakteren zu tun bekommt. Überhaupt ist es nicht schlecht, wenn der Leser zumindest ein bisschen Französisch und Arabisch beherrscht, denn nicht alle Redewendungen sind übersetzt, und manchmal sind sogar ganze Sätze in französischer Sprache belassen worden.

Der Nahostkonflikt als zweiter Handlungsstrang

Bei der Schilderung einer palästinensischen Familiengeschichte spielt der Nahostkonflikt zwangsweise eine Rolle. Hammad lässt diesen historischen Part zwar im Hintergrund ablaufen, doch tangiert er natürlich auch das Leben von Midhat; während er eine Familie gründet und langsam in Nablus Fuß fasst, gerät um ihn herum die Welt ins Wanken. Sein Freund Hani und sein Cousin Jamil beteiligen sich direkt am Kampf um einen Palästinenserstaat, Nablus wird bombardiert und die Gesamtsituation immer prekärer. In dieser Zeit entstehen die Wurzeln des immer noch andauernden Konfliktes, der die Region auch heute noch nicht zur Ruhe kommen lässt. Die gekonnte Verknüpfung von ganz persönlicher Geschichte mit den historischen Fakten ist der Autorin so gut gelungen, dass sie mit dieser Mischung den Leser mehr in Bann zieht als durch ihren wenig ausgearbeiteten Protagonisten. Der Beginn des Konflikts und die damit verbundene Radikalisierung ist das Fundament dieses Romans, was zwar in der Familiengeschichte nur zweitrangig eine Rolle spielt, aber diese gnadenlos bestimmt.

Fazit

Die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte ist Isabella Hammad imposant geglückt! Der Fremde aus Paris ist ein Buch, bei dem die Mischung stimmt: eine interessante Familiensaga, packender historischer Hintergrund und ein Schreibstil, der das alles widerspiegelt. Lediglich die zu oberflächlich ausgearbeiteten Figuren sind ein Defizit, das aber nicht von der Lektüre dieses Debüts abhalten sollte.

Der Fremde aus Paris

Isabella Hammad, Luchterhand

Der Fremde aus Paris

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