Die Geschichtensammlerin

- OT: The Story That Cannot Be Told

- aus dem Englischen von Marcus Ingendaay

- HC, 352 Seiten

Die Geschichtensammlerin
Die Geschichtensammlerin
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Carola Krauße-Reim
981001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2020

Eine gelungene Mischung aus Fiktion und Realitiät

Rumänien 1989: Lebensmittel, Strom und warmes Wasser sind knapp, das Land versinkt in Elend und Verzweiflung. Die Menschen leiden unter dem kommunistischen Regime ihres Conducătors Ceausescu, der zwar behauptet, das Beste für sein Land zu wollen, aber mit der Geheimpolizei Securitate „ein Netz von Spitzeln über das Volk geworfen hat“, das alle kontrolliert, abhört und beobachtet. Wer nicht konform geht, wird verschleppt, gefoltert und umgebracht.

Ileana ist zehn und lebt in Bukarest. Sie liebt ihre Eltern und sammelt begeistert Geschichten, die sie aufschreibt und manchmal nach ihrem Geschmack verändert. Doch dann gerät ihre Welt in Gefahr, denn die Securitate hat ihre Familie Visier. Ileana wird in die Berge zu den Großeltern geschickt, die sie nicht kennt und deren Lebensweise so ganz anders ist. Nur langsam gewöhnt sie sich um, doch dann taucht auch hier die Geheimpolizei auf und bedroht die Dorfgemeinschaft. Ileana, ihre Mamaie, ihr Tataie und ihre neue Freundin Gabi nehmen den Kampf auf, um ihre Familien und das Dorf zu retten…

Starke Charaktere ziehen den Leser in die Geschichten

Die unbestreitbare Protagonistin dieses Romans ist Ileana: Gerade einmal 10 Jahre alt, muss sie sich der harten Wirklichkeit stellen und ihre Eltern verlassen. Sie erzählt das Geschehen aus ihrer Perspektive und fesselt einen als Leser damit schnell. Durch die beschwerlichen Lebensumstände genauso geprägt wie durch die Literatur- und Kunstliebe ihrer Eltern, ist sie zwar ein Kind, das gerne spielt und Geschichten erzählt, aber auch eines, das die Gefahren kennt und damit nicht frei und ungezwungen aufwachsen kann.

Jessica Kasper Kramer hat mit Ileana eine ebenso realistische, wie starke Figur geschaffen die durch ihre Glaubwürdigkeit sofort Empathie hervorruft. Aber auch die Nebenfiguren sind so prägnant dargestellt, dass sie die Handlung realistisch, greifbar und lebendig werden lassen. Der Leser wird in die verschneiten Karpaten entführt, spürt die Angst vor der Securitate und den eisernen Willen der Menschen, physisch sowie psychisch zu überleben.

1989 war ein historisch bedeutungsvolles Jahr

Die Geschichtensammlerin setzt im Juni 1989 ein - ein Jahr, das für Europa und die ganze Welt tiefgreifende Veränderungen bereithielt. Kasper Kramer verbindet dabei geschickt die historischen Ereignisse mit dem Geschehen rund um Ileana. Die schwierigen persönlichen Verhältnisse sind eingebettet in die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die Zerschlagung des Ceausescu-Regimes und den gefährlichen Weg dorthin; das Leben in einem sozialistischen Überwachungsstaat und die Zeit des Umbruchs werden hier noch einmal lebendig. Dabei ist die Erzählung aber immer auf Ileana konzentriert. Die Autorin hat es bravourös verstanden, die historischen Gegebenheiten als Gerüst für die persönliche Geschichte zu nutzen, ohne diese damit zu überlagern. Sie schafft dabei eine extreme atmosphärische Dichte, die den Leser sofort in ihren Bann zieht. Der Stil ist dabei flüssig, aber ausgereift, und zeugt von viel Gespür für Sprache und Ausdruck.

Ein Märchen gibt Ileana Mut

Neben der Haupthandlung rund um Ileana und ihre Familie hat die Autorin ein (etwas modifiziertes) altes rumänisches Volksmärchen in den Plot gewoben: Die listige Ileana ist eine schlaue Prinzessin, die mit viel Weitsicht und Mut ihre Familie rettet, ihre törichten Schwestern in die Schranken weist und zeigt, dass man keinen dämlichen Prinzen braucht, um glücklich zu werden. Ileana zieht Kraft und Mut aus dieser Geschichte, nach deren Prinzessin sie benannt wurde und die ihr großes Vorbild ist. In ihrer ganz eigenen Sprache schreibt sie das Märchen auf und zaubert dem Leser damit so manches Lächeln auf die Lippen; es macht wirklich Spaß zu lesen, wie die Ileana-Prinzessin die arroganten Prinzen und ziemlich dümmlichen Schwestern im Zaum hält.

Leider ist die Autorin hier etwas zu sehr in die Jugendsprache unserer heutigen Zeit verfallen: Manche Ausdrücke dürften 1989 selbst im Jugendslang westlich der Mauer noch nicht aktuell gewesen sein, und im Ostblock erst recht nicht. So kann ich mir nicht vorstellen, dass Begriffe, wie „super definierte Sixpacks“ und „Boyfriend“ gängig waren im Rumänien unter Ceausescu. Auch die häufig verwendeten Fremdwörter dürfte eine 10-Jährige kaum in ihrem Sprachrepertoire haben. Dennoch grenzt sich Ileanas Idiom eindeutig von dem Hauptstrang der Erzählung ab und unterstreicht damit noch einmal das jugendliche Alter dieser ungewöhnlichen Protagonistin.

Fazit

Die Geschichtenerzählerin ist ein überaus gelungenes Konglomerat aus Fiktion und Realität. Mit viel Gespür für Sprache und Plot hat Jessica Kasper Kramer ein Debüt vorgelegt, dem man ihren Abschluss in Creative Writing und ihre Professur in Anglistik anmerkt. Nur kleine Ungereimtheiten sind zu bemängeln, sollten aber niemanden von der Lektüre dieses wunderbaren Buches abhalten!

Die Geschichtensammlerin

Jessica Kasper Kramer, Wunderraum

Die Geschichtensammlerin

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