Vardø: Nach dem Sturm

  • Diana
  • Erschienen: März 2020
  • 0

- OT: The Mercies

- aus dem Englischen von Carola Fischer

- HC, 432 Seiten

Vardø: Nach dem Sturm
Vardø: Nach dem Sturm
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Yannic Niehr
911001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2020

Wir haben unseren Platz in der Welt vergessen

Norwegen, 1617: das Leben auf der kleinen Insel Vardø ist rau, aber beschaulich. Ein jeder kennt seinen Platz – die Frauen kümmern sich um die Kinder und den Haushalt, die Männer fahren hinaus zum Fischen. Doch auf einen Schlag soll sich alles ändern: ein Jahrhundertsturm, der von jetzt auf gleich wütet wie die Rache Gottes, löscht das Leben aller Männer Vardøs aus. Wie soll es nun weitergehen? Das fragt sich auch die junge Maren, die mit ihrer nun verhärmten und bitteren Mutter, ihrer Schwägerin Diinna und deren kleinem Sohn Erik (ihrem Neffen) allein zurückbleibt. Die Antwort soll nicht lange auf sich warten lassen.

Kurz nachdem die Frauengemeinde lernen muss, sich ohne die Hilfe ihrer Männer selbst zu versorgen, wird Commissioner Absalom Cornet auf der Insel stationiert, ein Abgesandter des Lensmanns John Cunningham. Der norwegisch-dänische König hat sich an Schottland gewandt, wo in punkto Hexerei und Dämonologie seit Langem schon härter durchgegriffen wird. Den konservativen Kräften im Land ist die indigene Bevölkerung der Samí, welche mit Runen arbeitet und angeblich Wetterzauberei praktiziert, ein Dorn im Auge – zu diesem geheimnisumwitterten Volk gehört auch Diinna.

Maren spürt, dass Bedrohliches im Gange ist. Dennoch entwickelt sich bald eine Freundschaft zwischen ihr und Ursula (genannt Ursa), der Frau Absaloms, junge Tochter eines Schiffseigners aus wohlbehütetem Hause und (anfangs) etwas naiv. Das Unheil, das bald auf die kleine Insel kommen soll, offenbart sich erst, als es zu spät ist – und die Bindung, die sich zwischen Maren und Ursa entwickelt, birgt gefährliches Potenzial…

„Sie hatte gedacht, dass nichts es mit der Bösartigkeit jenes Sturms aufnehmen könnte. Doch jetzt weiß sie, wie es war, zu glauben, dass das Böse nur dort draußen herrschte. Das Böse war hier, unter ihnen, es hatte zwei Beine und fällte Urteile mit menschlicher Zunge“

Vardø nutzt einen spannenden historischen Background als Setting, um darin eine emotionale und packende Geschichte um Machthierarchien und Frauenschicksale zu weben. Autorin Karin Millwood Hargrave (die mit diesem Buch ihren ersten Erwachsenenroman vorlegt – ein beeindruckendes Debut) hat gut recherchiert, um nachzuzeichnen, wie sich der König Dänemark-Norwegens, um in gewissen Gebieten des Landes endlich für „Ordnung“ zu sorgen und sich zu profilieren, den in anderen Teilen der Welt bereits gängigen Hexenjagden anschloss und diese (traurige, aber geschichtlich wahre) Massenhysterie in den Landstrichen der Finnmark sät – mit furchtbaren Folgen. Der Fokus liegt aber nicht auf der Schaffung eines detailliert ausgearbeiteten historischen Panoramas, sondern auf den Charakteren, die vor diesem Hintergrund ihr Leben bestreiten müssen.

Hargraves Schreibstil ist mal kantig und rasant, mal poetisch und zutiefst berührend. Nicht nur gelingt es ihr, die simple und naturverbundene, kernige Fischerinsel so lebhaft darzustellen, dass man fast die Seeluft spürt und das Meersalz schmeckt, sie zaubert auch vielschichtige und glaubhafte Figuren, die jenes Eiland bevölkern. So entsteht vor den Augen des Lesers ein gesellschaftlicher Mikrokosmos im Ausnahmezustand, der einen sofort in diese Welt hineinzieht. Die Autorin lässt die Handlung behutsam voranschreiten und gibt den Entwicklungen (z.B. dem Erwachen von Ursas Stärke) so viel Raum, dass alles natürlich wirkt, obwohl es von düsteren Vorahnungen (z.B. aufgrund Marens prophetischer Träume) durchdrungen scheint. Mit der Atmosphäre kann dieser Roman vollends punkten.

„Es ist egal, was ich bin, wichtig ist nur, was sie von mir glauben“

Auch die Figuren wirken echt und authentisch. Der Beziehung zwischen Maren und Ursa steht klar im Zentrum, wobei die Erzählperspektive mal der einen, mal der anderen Frau näher ist. Durch das Eindringen des kalten und abgeklärten Commissioner Cornets ergibt sich eine spannende Außenansicht – das Aufeinanderprallen dieser beiden Welten und Weltanschauungen treibt das Drama an. Vor allem aber ist Vardø ein Roman über Weiblichkeit – die Protagonistinnen sind ausnahmslos Frauen, die – vom Schicksal bereits arg gebeutelt – sich zwischen den Fronten wiederfinden, ohne die Möglichkeit, das Gesamtbild zu überblicken. Die männliche Vorherrschaft kann das entstandene Maß an femininer Autonomie nicht verkraften und von daher nicht dulden; also bringt es diese kleine Gesellschaft dazu, sich selbst zu zerstören. Nicht nur gegen den Jahrhundertsturm von 1617 galt es sich zu behaupten; auch diesen Kräften versucht die zarte Beziehung zwischen Maren und Ursa zu trotzen, und findet wider Erwarten zur Selbstbestimmung. Eines allerdings lässt sich dem Roman vorwerfen: das Ende, wenn auch passend, kommt zu abrupt.

Fazit

In Vardø nutzt Kiran Millwood Hargrave Elemente des historischen Romans, einer Milieu- bzw. Gesellschaftsstudie, sowie des romantischen Dramas. Herausgekommen ist eine fesselnde Geschichte über die Zerbrechlichkeit von Zusammenhalt unter widrigen Umständen und das Bewahren einer weiblichen Perspektive in einer Zeit, in welcher männliche Macht zu brutalsten Mitteln der Unterdrückung greift. Bewegend, zwischen den Zeilen brandaktuell und durchweg unterhaltsam – klare Leseempfehlung!

 

Vardø: Nach dem Sturm

Kiran Millwood Hargrave, Diana

Vardø: Nach dem Sturm

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