Biike, Biberfell und Buhne 16 - Erinnerungen eines Sylter Inselkindes
Die Journalistin Susanne Matthiessen kam Mitte der 60er Jahre „bei auflaufendem Wasser“ auf Sylt zur Welt - hineingeboren in die „goldenen Jahre“ der liebsten Ferieninsel der Deutschen, in denen der Tourismus rauschartig anstieg und die Gäste den Wohlstand mitbrachten. Neben bürgerlichen Sommerfrischlern gab sich Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Unterhaltung ein Stelldichein. Der deutsche Jet-Set entdeckte Sylt als Partymeile und ließ in den Geschäften die Kassen klingeln.
„Wir wuchsen auf im explodierenden Fremdenverkehr, im explodierenden Wohlstand und mit explodierenden Moralvorstellungen.“ -Eine sandgestrahlte, verrückte Kindheit in den Siebzigerjahren
Auch der elterliche Betrieb der Autorin, die Pelzhandlung Matthiessen auf der Friedrichstraße in Westerland, zog die Urlauber in bester Kauflaune scharenweise an. Im Boom, den Sylt als exklusives Reiseziel erlebte, war ein Pelz von der Insel genau das richtige Mitbringsel.
Vor allem zur Saison im Sommer herrschte „ultimativer Kontrollverlust“, und für die Kinder hieß es: bloß keine Probleme machen. Ein kleines Kabuff hinter dem Geschäftsraum wurde zum Zentrum des Familienlebens: essen, spielen, Hausaufgaben machen zwischen Pelzen, Bürobedarf und Kühlschrank. Zuvorkommenheit gegenüber den Kunden galt als oberste Maxime.
Neben den lukrativen Verkäufen an die Feriengäste belebten illustre Kunden wie Arndt von Bohlen und Halbach, Rudolf Augstein und Oswalt Kolle mit ihren exklusiven Wünschen das Geschäft.
Der Nachwuchs, mittendrin in diesem Alltag am Anschlag, musste gucken, wie er zurechtkam.
Im Gegenzug zu Mithilfe und Zeitmangel der Eltern standen Erfahrungsreichtum und grandiose Freiheiten. Bei der Verarbeitung der Flut an Eindrücken standen die Heranwachsenden jedoch weitgehend allein dar.
Kindheitserinnerungen in Romanform
Susanne Matthiessen verließ nach dem Abitur für ihre journalistische Ausbildung Sylt, aber sie blieb der Insel und der kleinen Schicksalsgemeinschaft der dort Geborenen immer verbunden. Sich zu lösen, den Kontakt abzubrechen, versuchte sie vergeblich. Sie ist verbunden zu einer Heimat, die sich mit den Jahren unwiederbringlich verändert hat und mit dem Sterben der „goldenen Generation“ in alter Form bald nur noch in Erinnerungen lebt.
In ihre ganz persönlichen Erinnerungen dieser Zeit nimmt Matthiessen die Leser nun mit, geschrieben als Roman nach wahren Begebenheiten und damit ohne Verpflichtung auf wirklichkeitsgetreue Darstellung. Entsprechend der zentralen Bedeutung, die die Pelzhandlung in ihrer Erzählung einnimmt, ranken sich die Anekdoten der einzelnen Kapitel jeweils um eine „Sache“; besondere Einzelstücke von Ozelot-Bikini bis Zobel-Rucksack. Das geschieht ohne Glorifizierung, wie im gesamten Buch, das den Wandel der ethischen Einstellung zum Tragen von „Echt-Pelz“ und dessen Auswirkung auf den familiären Kürschnerei-Betrieb skizziert.
Der nüchterne, lakonische Ton, in dem die Autorin von den Begegnungen mit den vielen ungewöhnlichen Menschen und den teils aberwitzigen Geschehnissen mit reichlich trockenem Humor erzählt, verschafft auch eine Distanz zur kindlichen Gefühlswelt. Denn obwohl die skurrilen Beschreibungen sich sehr unterhaltsam und mit hohem Wiedererkennungseffekt für Sylt-Kenner lesen, war in der goldenen Zeit trotzdem nicht alles Gold, was glänzte; so schimmert zwischen den Zeilen auch etwas von der Verlorenheit und Überforderung der Kinder- und Jugendjahre durch, wenn manche Darstellungen aus heutiger Einschätzung eindeutig sexuell übergriffig erscheinen und emotionaler Rückhalt fehlte.
„Tö Söl' wú hual' Aural- zu Sylt halten wir immer“
Matthiessen schreibt mit einer verblüffenden Offenheit und klammert auch den engsten Familienkreis mit den Eltern und der Großmutter davon nicht aus. Ihr Rückblick ist aber weit mehr als ein Familientableau und wird dank vieler Anmerkungen und Reminiszenzen auch zu einem Zeitporträt der Bundesrepublik der 70er Jahre. Vor allem ist das Buch jedoch eine gefühlvolle Heimatbetrachtung, die intimen Einblick hinter die Kulissen Sylts gibt, in den geschlossenen Kreis der Inselbewohner, zu dem der Urlaubsgast bei aller Gastfreundschaft letztendlich keinen Zugang erhält. Der Erwerb von Immobilien und Grundstücken wurde den Zugereisten indes nicht verwehrt und damit der Ausverkauf der Insel eingeläutet. Besonders im Prolog und Epilog ruft die Autorin in nachdenklichen Tönen diesen Umbruch ins Gedächtnis, benennt Auswirkungen und Verantwortliche und zeichnet ein realistisches Bild des Sylts und der Sylter von heute, verhaftet zwischen stetiger Expansion und dem zweifelhaften Versuch der Bewahrung der mit all ihren Traditionen nicht nur durchs Meer vom Untergang bedrohten Heimat.
Fazit
Susanne Matthiessens Roman ist Familiengeschichte, Gesellschaftsporträt und Heimaterzählung in einem. Sehr amüsant und ehrlich geschrieben zeichnet sie aus ihren Kindheitserinnerungen ein authentisches Bild der goldenen Vergangenheit Sylts. Sie nimmt ihre Leser mit auf eine Reise der besonderen Art, die viel über die Faszination der Insel verrät und zum Rückbesinnen der eigenen Erlebnisse einlädt - ein Blick zurück nach vorn, denn auch das Sylt von heute wird besorgt und kritisch, aber voller Loyalität und Zuneigung porträtiert.
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