Schutzzone

  • Suhrkamp
  • Erschienen: September 2019
  • 1

- HC, 332 Seiten

Schutzzone
Schutzzone
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Carola Krauße-Reim
751001

Belletristik-Couch Rezension vonNov 2019

Die Frage nach persönlicher Verantwortung und Schuld

Mira Weidner arbeitet für die Vereinten Nationen. Nach Stationen in New York und Burundi ist sie jetzt in Genf tätig. Während sie tagsüber Berichte über Krisenherde und mögliche Lösungsansätze erarbeitet, trifft sie sich abends in Luxushotels mit den verfeindeten Staatsvertretern, um zu vermitteln. Während eines Empfangs trifft sie Milan wieder, bei dessen Familie sie 1994 nach der Trennung ihrer Eltern einige Zeit gelebt hat. Sie beginnen eine Beziehung, obwohl Milan verheiratet ist und Mira mit seinem schwankenden Verhalten zwischen grober Zurückweisung und anhänglicher Zuneigung zurechtkommen muss. Als der Rolle der UN bei der Aufarbeitung des  Völkermordes in Burundi nachgegangen wird, muss sich Mira schließlich die Frage nach der eigenen Verantwortung und Schuld stellen.

Die UN als Mittel zum Zweck

Die Vereinten Nationen bestehen aus zwei „Abteilungen“ - die Bürokraten hinter ihren Schreibtischen in New York oder Genf und die „Expats“ in den Konfliktbereichen dieser Welt, die Sicherheit in Schutzzonen benötigen, um ihr Leben nicht auch noch in ihrer Freizeit zu gefährden. Nora Bossong beschreibt in sehr verschachtelten, teilweise über eine halbe Seite gehenden Sätzen die Ohnmacht der Vereinten Nationen. Obwohl alle ehrlich bemüht sind, ist von vorneherein klar, dass sich nichts ändern wird, wenn die Machthaber vor Ort ihr Einverständnis verweigern, und das geschieht leider nur allzu oft. Da nützen die bestausgearbeiteten Strategien nichts und die gut gemeinte humanitäre Hilfe läuft ins Leere.

"Es gab das Plus jamais ça, Never again, Nie wieder, aus dem heraus die UNO gegründet worden war, aber es verhinderte nicht, dass es wieder geschah, die Morde, Massaker, Genozide.“

Diese Erfahrungen muss auch Mira machen. Als Mitarbeiterin der Vereinten Nationen in Genf und Burundi bleibt sie immer eine Außenstehende, keine direkt Beteiligte an den Konflikten, eine, die „alles so gnädig sah, wie es nur durch Herablassung möglich ist“. Nach getaner Arbeit zieht sie sich desillusioniert, wie die anderen Expatriierten, in ihr hochgesichertes Hotel zurück, entspannt auf Partys und im Pool und überlässt die chaotische Welt jenseits der Mauern sich selbst, bis es wieder Zeit ist, sich aus der Schutzzone zu begeben und einen neuen Arbeitstag zu beginnen. Mira versucht zu helfen, genauso wie die NGOs, aber wenn ihre Hilfe abgelehnt wird, hat sie keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Mira geht. Schnell holt sie die Erkenntnis der Vergeblichkeit ein. Der Gewalt, dem Zynismus und der Furcht hat sie nichts entgegenzusetzen. Während sie in der Schweiz frustriert die Tristesse beklagt, herrscht in Burundi weiter die Angst, und die Wahrheit, die Mira mit einer Kommission herausfinden sollte, bleibt im Dunkeln.

„Wir sind weggeschickt worden. Weil wir machtlos waren, hat ein Kollege später zu mir gesagt. Aber das stimmt nicht. Ich war nicht machtlos wir alle waren das nicht, einige wären es nur gerne gewesen. Es ist bequemer.“

Bossong konfrontiert Mira, stellvertretend für uns alle, mit der Frage nach der eigenen Schuld. Wie weit geht die persönliche Verantwortung als Außenstehender, der zwar bemüht, aber angeblich machtlos ist? Wie sehr muss ich mich einmischen, und lade ich Schuld auf mich, wenn ich aufgebe, bloß weil mir Grenzen auferlegt wurden? Habe ich ein Recht, in meine sichere Schutzzone zurückzukehren, mein gefahrloses Leben wieder aufzunehmen, wenn ich um die gefährdeten Leben der Anderen weiß? Hier rüttelt die Autorin an den Grundfesten des eigenen Seins, denn die Frage nach Verantwortung und Schuld ist vielfältig und betrifft in Zeiten des Hasses und der Zunahme von Gewalt und gesellschaftlicher Verrohung jeden von uns. So individuell die Frage ist, so wenig universell ist die Antwort: für den einen ist es unumgänglich, dass man Grenzen überschreiten muss, wenn die Lage es erfordert, für den anderen sind solche Grenzen manifestiert und regeln dadurch unser Miteinander.

Auch Mira muss sich ihrer Verantwortung stellen, und zwar sowohl beruflich als auch privat. Lädt sie Schuld auf sich, wenn sie weisungsgemäß eine Krisenregion verlässt und in ihre persönliche Schutzzone zurückkehrt oder privat ihr Verhältnis mit einem verheirateten Familienvater weiter führt? Auch sie kann nur eine ganz persönliche Lösung finden, mit der sie selbst leben kann und muss – die eine Antwort gibt es nicht.

Nora Bossong verlangt dem Leser einiges ab

„Schutzzone“ stand nicht ohne Grund auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019. Das Thema ist aktuell und betrifft uns alle, egal ob auf der großen politischen Bühne oder ganz privat im persönlichen Umfeld. Doch das Buch verlangt dem Leser auch einiges ab. Ständig wechseln in den Kapiteln Zeit und Ort des Geschehens. Der Leser wird immer wieder in die Vergangenheit geschickt, bevor er sich wieder in der Gegenwart zurechtfinden muss. Miras Zeit in New York und Burundi und in Milans Familie löst sich ab mit ihrer Präsenz in Genf. Um Miras Leben und Arbeit in Burundi zu verstehen, ist eine Kenntnis der Vorkommnisse in diesem Land von Nutzen; ohne sie kann der Leser das Geschriebene nur schwer nachvollziehen und einordnen. Hier sind die oft sehr langen und verschachtelten Sätze auch keine große Hilfe, die zwar sprachlich grandios sind, aber manchmal zum vollständigen Verständnis mehrmals gelesen werden müssen. Überhaupt muss man sich Zeit nehmen für dieses Buch, sich auf ein hohes sprachliches Niveau ebenso einlassen wie auf eine Endlosschleife, die ständig nach Verantwortung und Schuld fragt und die desillusionierender nicht sein kann. Wenn Helfer „in der Welt verloren gehen“ oder der Frieden als „schöne Geste, nur leider nicht mehr als das“ bezeichnet wird, braucht man als Leser schon ein dickes Fell, um nicht deprimiert zu werden.

Fazit

„Schutzzone“ ist ein sprachlich anspruchsvolles und nicht einfach zu lesendes Buch. Nora Bossong verlangt vom Leser Durchhaltevermögen, Zeit und die Bereitschaft, sich auf ein schwieriges Thema einzulassen. Das teilweise in steter Wiederholung Geschilderte bringt einen manchmal an den Rand dessen, was man lesen möchte. Und obwohl Bossong von Mira Weidner erzählt, stellt sie ganz allgemein die Frage nach Schuld und Verantwortung - und zwingt damit zum Nachdenken.

 

 

 

 

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