Großbritannien im Zweiten Weltkrieg
An einem Samstagabend im Jahr 1942 sitzt Frances im Wohnzimmer ihrer Eltern, auf ihrem Schoß ein Junge, der nicht ihrer ist. Der kleine Davy ist ihr heute zu viel, sie muss raus an die frische Luft – obwohl in Bath gerade absolute Verdunklung herrscht. Es ist der Geburtstag ihrer Freundin „Wyn“, die in ihren Kindertagen spurlos verschwand. Um ihrer inneren Beklommenheit zu entkommen, gibt Frances Davy bei einem älteren Ehepaar ab.
Dann bricht plötzlich die Hölle über Bath los. Frances erlebt die Bombardierung in einiger Entfernung auf einem Hügel.
Als sie am nächsten Morgen aufwacht, hat sie das drängende Gefühl, irgendetwas sehr Wichtiges vergessen zu haben …
Drei junge Leben
Katherine Webb spannt ihre fesselnde Erzählung von 1918 bis 1942 – von dem einen großen Krieg zum anderen. Das Jahr 1918 ist der Ursprung einer Verkettung unglücklicher Ereignisse und einer daraus resultierenden Verantwortung, die zu groß ist für ein achtjähriges Mädchen.
Nach der Bombennacht 1942: Carys, die alkoholkranke Mutter des kleinen Davy, ist die Schwester der damals verschwundenen Wyn. Als Frances ihr die Botschaft vom Verschwinden des Jungen überbringen muss, macht diese ihr schwere Vorwürfe.
Zwischen beiden Frauen steht noch immer, unüberwindbar, das Rätsel um die Frage, was damals wirklich mit Wyn passiert ist. Während Carys vergessen will, kann Frances sich nicht damit abfinden, dass die Wahrheit nie herausgefunden, ja, noch nicht einmal gesucht wurde.
Frances hat schon als Achtjährige begriffen: in Wyns Familie gab es vom Essen nie genug – von den väterlichen Schlägen aber viel zu viel. In Rückblenden erfahren wir, was in jenem Sommer 1918 geschah. Frances weiß, dass sie einen ganz wesentlichen Teil vergessen hat, aber nicht, warum ihr Verstand sich so sehr gegen die Erinnerung wehrt. Als nach der zweiten Bombennacht Wyns sterbliche Überreste auf dem Grundstück ihres eigenen Elternhauses gefunden werden, ist Frances ganz sicher: Es war nicht der deutsche Kriegsgefangene, den Wyn und sie damals versteckt hielten, sondern ein anderer, der Wyn das Leben genommen hat.
Die Sprachlosigkeit und das Unverständnis Frances gegenüber, die unermüdlich Nachforschungen anstellt, steht wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihr und den Menschen, die es besser wissen müssten. Ebenso wenig, wie sie ihre Schuldgefühle gegenüber dem zu Unrecht verurteilten Kriegsgefangenen einfach abstreifen kann, kann sie sich mit einer Lüge abfinden. So bleiben Beziehungen, die seit Kindertagen bestehen, in einem schwer erträglichen Schwebezustand.
Spannend wie ein Krimi
Beide Ereignishorizonte stehen in Katherine Webbs Roman in ständigem Austausch und damit in einem wachsenden Spannungsfeld. Frances muss ihre Kindheitserinnerungen mit der Erfahrung einer erwachsenen Frau neu bewerten. Die Spur, die Frances dabei aufnimmt, deckt Teile eines Puzzles auf, das – so ahnt man schon – Erschreckendes zeigen wird. Wie sich die Hinweise im Verlauf der Schilderungen immer mehr verdichten und uns den wahren Ereignissen jenes Sommers näherbringen, liest sich wie ein Krimi.
„Die Wahrheit war wie eine flüchtige Bewegung im Augenwinkel, die erstarrte, sobald sie sich nach ihr umdrehte.“
Die mit jeder Seite zunehmende (An-)Spannung wird noch durch Katherine Webbs Ausdruckskraft verstärkt. Sie findet Worte für Gefühle und Ahnungen, die Frances kaum benennen kann, erschafft mir ihren Metaphern greifbare Bilder, die – sind sie einmal im Kopf – unvermittelt auch emotional berühren. Neben der eigentlichen Handlung, sind die beiden Zeitfenster aus dem historischen Kontext heraus schon spannend. Das eher beschauliche Bath mit seinen Traditionen, dem Zusammenhalt der Gemeinschaft und den Familiengeschichten, muss zum zweiten Mal einem Weltkrieg trotzen. Katherine Webb lässt den Alltag der Menschen lebendig werden, ihre vordergründige Gefasstheit sowie ihren Mut, sich nicht unterkriegen zu lassen. Doch es gibt auch Gerede, Verdächtigungen, Lügen - und viele Geheimnisse.
Fazit
In die „Die Schuld jenes Sommers“ verbindet Katherine Webb historisch spannende Hintergründe mit einer Erzählung, die, je tiefer man in die Geschichte gleitet, immer mehr einem Krimi gleicht. Die Suche nach einem Täter, der seiner gerechten Strafe immer noch nicht zugeführt wurde, die zwischenmenschlichen Tragödien und die trügerisch heile Welt der Kindheit verbinden sich zu einem vielschichtigen Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen mag, ehe man die Antwort auf die Frage kennt: Was geschah in jenem Sommer wirklich?
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