Die Nickel Boys

Originalausgabe erschienen unter dem Titel The Nickel Boys; aus dem Englischen von Henning Ahrens; Hardcover, 224 Seiten

ISBN: 9783446262768

Die Nickel Boys
Die Nickel Boys
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Yannic Niehr
951001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2019

Man kann ein Gesetz ändern, aber nicht die Menschen und die Art, wie sie miteinander umgehen

Wie doch nur eine kleine Entscheidung ein Leben für immer verändern kann… Eigentlich möchte Elwood zum ersten Mal auf den College-Campus, um an Vorbereitungskursen teilzunehmen. Doch steigt er als Anhalter in den falschen Wagen ein: der nette Herr, der ihn mitnimmt, hat den Plymouth gestohlen. Obwohl Elwood damit nichts zu tun hatte, gilt: mitgefangen, mitgehangen. Denn wir schreiben die frühen 60er Jahre in Florida. Und Elwood ist schwarz.

Elwood wird in die Nickel Academy verbracht, eine Besserungsanstalt für Jugendliche. Wirkt diese auf den ersten Blick halb so schlimm, wird doch schnell offensichtlich, dass die Machtstrukturen der Rassentrennung, die draußen nach wie vor überall in den USA Bestand haben, hinter den Mauern des Nickel doppelt und dreifach gelten. Als belesener und intellektueller Musterschüler, der schon als Kind Reden von Martin Luther King jr. auf Schallplatte rauf- und runtergehört und bereits an Protestmärschen teilgenommen hat, sich also dieser unmenschlichen Zustände durchaus bewusst ist, überrascht Elwood das grundsätzlich nicht. Das Ausmaß der Gewalt und Gleichgültigkeit, das den schwarzen Jungs dort entgegengebracht wird, allerdings schon.

Das Leben im Nickel ist brutal, und mehr als einmal sind schon Jungs, die von den Wärtern zu Zwecken der „Züchtigung“ in das sogenannte Weiße Haus im Hinterhof verbracht wurden,  nicht zurückgekehrt. Einzig Turner wird ein nahestehender Vertrauter, und macht das Anstaltsleben zumindest gelegentlich erträglich. Wie aber soll man den Schmerz und die Demütigungen ertragen, ohne daran zu zerbrechen? Oder gibt es am Ende doch einen Ausweg?

 „Zu überleben reichte nicht, man musste sein Leben auch in die Hand nehmen“

Das Buch ist hart und erschütternd. Besonders vor dem Hintergrund, dass die Nickel Academy von einer tatsächlichen Einrichtung, der Dozier School for Boys, inspiriert wurde, an der wohl ähnliche Zustände geherrscht haben müssen. Tatsächlich hat Colson Whitehead das ein oder andere Zitat aus Berichten über die dortigen Geschehnisse, die im Laufe der Zeit publik wurden, fast wörtlich in seinen Text einfließen lassen. So lässt sein Roman einen von der ersten Seite, als massenhaft anonyme Gräber auf dem Gelände entdeckt werden (ebenfalls auf Tatsachen beruhend), bis zum berührenden Epilog nicht los. Thematisch geht es um Klassendifferenzen, um Widerstand auch im Angesicht entmenschlichender Situationen, und darum, dass Menschen oftmals unverschuldet in eine Lage gestoßen werden, die sie jeglicher Chancen und Möglichkeiten beraubt. Das Leben ist nicht immer fair.

„Die Wunden, die weiße Jungs davontrugen, sahen anders aus als die der schwarzen Jungs“

Doch manchen Menschen werden ihre Chancen und Möglichkeiten einfach nur von anderen Menschen aberkannt. Denn natürlich geht es in Die Nickel Boys auch – und vor allem – um  (institutionellen) Rassismus. Wie schon in Underground Railroad legt Whitehead seinen Finger gekonnt in die Wunde Amerikas, die bis heute nicht richtig verheilt ist. Whiteheads Sprache ist dabei schonungslos ehrlich und doch voll poetischer Ausdruckskraft. Besonders gelungen ist die Zeichnung der Charaktere, deren Hintergründe Stück für Stück offenbart werden, sodass man viele dieser Einzelschicksale schließlich besser verstehen lernt. Interessant ist auch das Spiel mit Sprach- und Zeitebenen: so wechselt sich der Fokus von Elwoods Passagen mit Sequenzen ab, die in der Zukunft spielen, und zum Teil sachlich rückblickend von dem berichten, was seither passiert und über die Nickel Academy ans Licht gekommen ist. Auch wenn in dem Roman Platz ist für Hoffnungsschimmer und emotionale Momente, geht es Whitehead doch eher darum, ganz deutlich Wichtiges anzusprechen: man sollte nicht die Augen davor verschließen, dass manche Dinge lange nachwirken. Und manch andere Dinge waren nie wirklich weg.

Fazit

Whitehead bleibt sich thematisch treu und öffnet dem Leser mit einem umwerfenden Kniff gegen Ende brachial die Augen für Willkür und Unmenschlichkeit. Auch Jahrzehnte nach der Bürgerrechtsbewegung sind die Bücher, die Whitehead schreibt, unabdingbar. Und dazu noch verdammt gut.   

Die Nickel Boys

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