Der Wald

Der Wald
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Carola Krauße-Reim
901001

Belletristik-Couch Rezension vonMai 2019

Einfühlsames Portrait einer Mutter-Kind-Beziehung

Polen während des 2. Weltkrieges. Der kleine Pawel wächst wohlbehütet in einem gut bürgerlichen Haushalt auf. Sein Vater Karol engagiert sich im Widerstand; die Großmutter hilft als Ärztin, wo sie nur kann; Zofia, seine Mutter, und Joanna, seine Tante, versuchen mit den veränderten Lebensverhältnissen fertig zu werden. Eines Tages bringt Karol einen schwer verletzten englischen Kampfpiloten mit nach Hause, der die Nacht wohl nicht überleben wird. Doch er schafft es und bringt mit seiner Gegenwart die ganze Familie in Gefahr. Tiefgreifende Ereignisse nehmen ihren Lauf.

Ein überwältigender Erzählstil

Nell Leyshon erschafft mit ihrem unaufgeregten aber ausgefeilten Stil eine Welt, in die der Leser eintaucht und, die ihn gefangen hält. Ohne diese sprachliche Gewandtheit, wäre das Buch nur eines unter vielen, dass ein Leben während des 2. Weltkrieges thematisiert. Doch hier wird nicht nur eine Geschichte erzählt, hier wird mit Sprache ein poetisches Spiel getrieben, jedes Wort ist wohl überlegt, jeder Gedanken pointiert, jede Szene ausgereift. Eine Sprache, die einfühlsamer nicht sein kann, aber gleichzeitig so bildgewaltig und sinnlich, dass sie mit voller Wucht den Leser trifft. Dieser überwältigende Erzählstil lässt nicht los und entführt in das Leben von Zofia und Pawel, das durch den Krieg schon schwierig genug ist und nun völlig aus den Fugen gerät.

Der Wald als Ort der Annäherung

Mit Zofia und Pawel hat die Autorin zwei starke Charaktere geschaffen. Zofia ist an ein Leben mit Köchin, Diener und Kindermädchen gewohnt. Arbeit ist ihr fremd. Sie liest, spielt Cello und ist ansonsten die gut gekleidete Frau mit perfekten Umgangsformen an der Seite ihres Ehegatten. Doch der Krieg hat diese Welt zusammenbrechen lassen. Jetzt gibt es keine Bediensteten mehr, sie und ihre Familie müssen alleine zurecht kommen. Zofia schafft das nur mit äußerster Anstrengung, zu sehr ist sie noch in ihrem alten Leben gefangen. Sie beharrt auf anerzogenen Gewohnheiten und Etikette. Dieses Festhalten an alten Mustern gibt ihr Sicherheit. Sie sind das Gerüst, das ihr Leben nicht völlig kollabieren lässt. Pawel ist ein träumerisches Kind, das in seiner eigenen Gedankenwelt lebt. Die Kriegsereignisse haben auch ihn aus seiner behüteten Kindheit gerissen. Auf der Suche nach Geborgenheit wünscht er sich seine Mutter als Bezugsperson, doch die tut sich mit der ungewohnten Nähe schwer. Sie kann mit ihrem Sohn nicht viel anfangen oder sich gar in seine Psyche versetzen, die oft genug durch den Krieg in Angst und Schrecken versetzt wird. Erst als beide aus dem gewohnten Umfeld gerissen werden und ihr Leben in der Einsamkeit des Walds auf das Essentielle reduziert ist, ändert sich das. Zofia realisiert, dass Pawel ein Teil ihrer Selbst ist, dass er die Essenz ihres Lebens ist. Sie erschafft sich neu indem sie sich und diese Essenz zu erhalten versucht. Pawel hingegen wendet sich Baba, der Bäuerin, zu. Hier wird er erstmals als Mensch und nicht als Sohn gesehen. Durch sie lernt er im Wald zu überleben, sie erklärt ihm die Natur und gibt ihm gleichzeitig Halt. Doch Zofia findet in ihre Rolle als Mutter und zeigt ihrem Sohn, dass sie eine Einheit sind, die den Widrigkeiten des Lebens in einem Stall weitab von allem Bisherigen trotzen und, die Kraft und Sicherheit aus dem Zusammenleben schöpfen kann. Beide, Zofia und Pawel sind so berührend beschrieben, dass sie gleich Empathie wecken, auch, wenn Zofia anfangs wenig von einer liebevollen Mutter hat. Der Leser fühlt mit beiden und taucht so tief in ihre Gedanken ein, dass das Gelesene noch lange nachhallt und man über sein eigenes Leben und die Beziehung zur eigenen Familie nachsinnt.

England als Ort der Neuerschaffung

Nach dem Krieg leben Mutter und Sohn in England. Sie sind jetzt Sofia und Paul, nicht mehr Zofia und Pawel. Das alte Leben haben sie in Polen zurück gelassen, ebenso wie den Vater und Ehemann. Sie funktionieren als Einheit, obwohl beide ihre eigenen Wege gehen. Die Sicherheit sich aufeinander verlassen zu können macht dies möglich. Und trotzdem wird die Harmonie auf eine harte Probe gestellt, die von Sofia noch einmal ein Umdenken verlangt, das sie erst nach vielen Jahren schafft und, das nur durch die Erkenntnisse aus dem Leben im Wald möglich ist. Eine Brücke zu dieser Zeit und der Zeit in der Geborgenheit des wohlbehüteten Heims vor dem Krieg schaffen Gegenstände, die den Weg mit ins Exil im Wald und danach ins ferne England geschafft haben. Ein umsäumtes Tuch, geschaffen aus dem Mantel der Großmutter, eine Tasse aus Knochenporzellan und ein Kopfkissen mit rotem Satinband erinnern Sofia und Paul an die wichtigen Dinge des Lebens – Geborgenheit, Gemeinsamkeit, Fürsorge und bedingungslose Liebe.

Ein Manifest für Toleranz und Liebe mit ganz kleinen Mängeln

„Der Wald“ ist ein Meisterwerk, das sich vor allem durch seine sprachliche Kompetenz hervorhebt. Die bildgewaltige Sprache erzählt eine berührende und eindringliche Geschichte, die noch lange nachwirkt. Nell Leyshon ist hiermit nicht nur die Schilderung einer Mutter-Kind-Beziehung gelungen, sondern ein eindringlicher Aufruf für Toleranz und Liebe. Gelungen ist auch das pastellfarbene Cover. Es verbindet wunderbar das alte Leben in der Stadt, symbolisiert durch eine Tasse, die in der Geschichte eine aussagekräftige Rolle spielt, und das Leben im Wald. Die Größe der dargestellten Vögel und der unterschiedlichen Äste lassen schon eine Gewichtung dieser beiden unterschiedlichen Lebensphasen zu. Schade ist, dass zwar das Schicksal von Großmutter und Tante aufgeklärt wird, aber das des Vaters nur bedingt. Er ist zwar in der Beziehungsfindung von Mutter und Sohn nicht maßgebend, aber sein Verbleiben würde die Geschichte abrunden. Gefehlt haben mir auch die Ereignisse, die zur Immigration nach England geführt haben. Zwar sind auch sie für den Kern der Geschichte unerheblich, aber da sich Zofia und Pawel in England noch einmal ganz neu erfinden und sogar ihre Namen und ihre Sprache ändern, wären sie für den Leser als eine Art Brücke zwischen den beiden Teilen eines Lebens wünschenswert

Der Wald

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