Mittagsstunde

Sprecher: Hannelore Hoger Spieldauer: 11 Stunden und 31 Minuten

Mittagsstunde
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Stefanie Eckmann-Schmechta
981001

Belletristik-Couch Rezension vonFeb 2019

Brinkebüll, ein Dorf vor und nach der Flurbereinigung

Dörte Hansen und Hannelore Hoger entführen ihre Zuhörer hoch in den Norden, in die Nähe von Kiel, in die Geest. Dorthin, wo man noch „Platt kürt“, wo Nachbarn zur Familie werden, wo man vieles weiß, aber nichts sagt. Einer der verzweigten Stränge der Geschichte führt uns in die Vergangenheit, in Sören Feddersens Leben nach dem Krieg, als seine Frau einem anderen gehörte und das Kind, das sie sieben Monate nach seiner Rückkehr zur Welt brachte, auch. Das Kind, Marret, ist anders als andere Kinder. Entrückt irgendwie und mit keiner Logik der Welt zu verstehen. Das Dorf nimmt es so hin; Marret ist eben so.

Dörte Hansen dröselt das dicke Schicksals-Seil, das die Leben aller miteinander verdreht hat, langsam auf – und spart sich den großen Vorhang, das Lüften der ganzen Wahrheit, ganz bis zum Schluss auf. In ihrer für sie so typischen ruhigen, präzisen Sprache, die ich schon in „Altes Land“ bewundert habe, setzt sie klare Worte wie Markierungen. Messpunkte im Leben eines jahrhundertealten Dorfes und  in der uralten Landschaft, die in den 70er Jahren durch die Flurbereinigung für immer verändert wurde.

Nahaufnahmen vom Großen Ganzen 

Dörte Hansens Beschreibungen des grauen, tiefhängenden Himmels über der Geest, der täglichen Routine und der Art, wie die Menschen mit ihrer Heimat verwachsen sind, der Natur ausgesetzt und sich ihr immer wieder trotzig entgegenstellen, bestehen aus immer noch lebendigen Bildern, Erinnerungen, Gefühlen, Gerüchen, Anekdoten oder Liedern. Sie wecken ein herzliches Gefühl für diese Menschen und ihre Schicksale.

Brinkebüll steht exemplarisch für viele kleine Dörfer vor und nach der Flurbereinigung. Für Geschichten, die in keiner Dorfchronik niedergeschrieben sind, die in keinem Geschichtsbuch stattfinden, aber doch einen genauen Einblick in die Nachkriegszeit bis heute zeigen, gerade weil man das Gefühl hat, mit der Lupe auf eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung zu schauen. Und auf eine Gemeinschaft, die sich untereinander nichts schenkt, die wegsieht, wenn man einschreiten sollte, die sich lustig macht, wenn es sich eigentlich gehören würde dem anderen beizustehen, die aber – wenn es hart auf hart kommt – doch füreinander einsteht. Doch, das gehört sich so. Genauso, wie man dem Besuch gefälligst keinen gekauften Kuchen auftischt. Sonst könnte man ja gleich ein „schnuddeliges“ Tischtuch auf den Tisch legen.

Wir erfahren in Rückblenden und Momentaufnahmen von vielen einsamen, skurrilen Dorfbewohnern und regelmäßigen Besuchern.  Alles gut miteinander verwoben und in aller Ruhe wieder „auseinandergetüdelt“.

Leben und leben lassen

Einige Brinkebüller Lebenskünstler sehen die Welt mit ganz eigenen Augen und können trotz ihrer tragischen Geschichte glücklich sein. Manch einer würde nachtragend sein, doch so sind sie einfach nicht. Es wird nicht ausgiebig darüber geurteilt, ob einer richtig ist oder falsch, schusselig, blöd oder einfach nur unglaublich ungeschickt im Umgang mit seinen Mitmenschen ist. Man macht eine kurze Wischbewegung vor dem Gesicht, damit ist auch alles klar.

Jeder hat schließlich sein „Päckchen“ zu tragen. Wie der Junge, der ständig verprügelt wird, aber stolz darauf ist, dass er nicht heult, sondern lacht. Der Dorflehrer, der immer nur am Rand steht und doch so viele Menschen prägt. Er beobachtet still, zieht seine Schlüsse, versucht die richtigen Weichen zu stellen. Der Pfarrer, der ihnen in all den Jahren nicht nahe kommen kann – aber dann, als die Schnellstraße nach Brinkebüll führt, auf seine alten Tage dringender denn je gebraucht wird.

Der uneheliche Sohn, Ingwer, den Marret mit ihren 17 Jahren nicht will, nicht weiß, was sie damit anfangen soll. Ingwer, der sein Leben lang das Gefühl hat nur hinter der Theke zu stehen, während die anderen ihr Leben leben. Großvater Sören, der auf eine sehr schräge Weise vom lieben Gott doch noch ein Guthaben erhält und damit den ersehnten Sohn. Ella, die Mutter von Marret, die einfach nicht mit anderen Menschen sprechen kann, so, wie andere nicht schwimmen oder tanzen können.

Die einzelnen Lebensgeschichten sind tragisch, aber Dörte Hansen gelingt es immer wieder, auch die komischen, ja sogar die heiteren Momente sichtbar zu machen. Die Wortkargheit sowie die Demut, mit der die Menschen von Brinkebüll das Leben ertragen, im Guten wie im Schlechten, machen sie aus. Sie laufen nicht davon, sie halten es aus. Irgendwie, das wissen sie, geht es vorbei. Wie der Sturm.

Großartige Hörbuchfassung

Hannelore Hoger liest so überzeugend, dass man ganz in dieser verästelten Welt verschwinden kann. Sie beherrscht die plattdeutsche Sprache, ihren Tonfall, ihre Melodie perfekt. Zumindest für meine Ohren. Ich bin zwar in einem kleinen Dorf im Münsterland groß geworden, aber die trockene, oft schonungslos ehrliche  Art,  wie die Landbevölkerung die Dinge beim Namen nannte, ist mir auch noch in Erinnerung  – und diesen Ton trifft Hannelore Hoger ganz hervorragend. Dabei schlüpft sie mühelos in die Rolle des alten, müden Sören, wechselt schwungvoll in die Exaltiertheit von Ingwers Freunden, erzählt ruhig, klar und auf den Punkt – und oft auch pointiert -  schluchzt , kichert, singt und zeigt dabei ihr ganzes schauspielerisches Talent. Großartig!

Ihre tiefe, warme Stimme mit ihrer unverkennbaren Melodie passt perfekt zu der außergewöhnlichen Sprache von Dörte Hansen, die wie ein kühler Nordwind den Kopf von allem Überflüssigen befreit: Klar, erfrischend ehrlich und voller Poesie.

Mittagsstunde

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