Totenvogel

  • Berlin: Friedenauer Presse, 2018
Totenvogel
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Sebastian Riemann
851001

Belletristik-Couch Rezension vonJan 2019

Der Wald als Zufluchtsort in grausamen Zeiten

Die Angst entdeckt zu werden, aus dem Versteck herausgezogen, auf eine Lichtung gebracht und hingerichtet zu werden. Diese Angst begleitete die Familie Debicki viele Jahre, da sie sich in den Wäldern Osteuropas versteckte und um ihr Leben fürchten musste. In den Tiefen des Waldes und in Sumpfgebieten suchten sie sich unzugängliche Orte, an denen man sie nicht finden würde und an denen sie Ruhe vor ihren Verfolgern hätten. Aber immer wieder schlich sich der Tod an sie heran, streckte seine dürren Finger nach ihnen aus. Sie mussten fliehen, sich an neuer Stelle verstecken, nach Nahrungsmitteln suchen und hoffen, nicht entdeckt und getötet zu werden. Sie waren keine Soldaten, sie kämpften nicht ums Überleben. Sie mussten klug sein, sich den Gegebenheiten anpassen, sich Schlupfwinkel und Überlebensmöglichkeiten suchen. Als polnische Zigeuner wurden sie im zweiten Weltkrieg sowohl von den Deutschen als auch von den Ukrainern verfolgt. Von beiden mussten sie den Tod fürchten. Viele Verwandte und Freunde überlebten diese Jahre nicht, fielen dem Genozid zum Opfer. Edward Debicki, Schriftsteller und Musiker, erlebte die Zeit des Krieges und der Flucht als kleiner Junge. Mit seinen Eltern und Geschwistern floh er vor den Mördern. In Totenvogel beschreibt er die Angst, aber auch die unbeschwerten und freudigen Momente seiner Kindheit.

Er ist ein besonderes Buch, dieser Totenvogel. Kein Roman, der eine große Geschichte erzählen will, sondern eine Ansammlung von Erinnerungen, die wieder hervorbringen wollen, was damals geschah. Authentisch und lebendig. Es gibt keine Kunstgriffe, keine Poesie zur Erheiterung der Leserschaft. Dieses Buch erzählt in unmittelbarer Art von Angst und Leid. Erklärungen und Informationen zum zweiten Weltkrieg sucht man vergebens. Man findet nur die aufgeblähten Bäuche der fliehenden Zigeunerfamilie, wenn sie nichts Essbares auftreiben können, die Mutter mal wieder improvisieren muss. Die Kinder suchen im Wald nach Kräutern und Beeren. Alles ist ihnen recht, sie dürfen nicht wählerisch sein. In den Nachbardörfern gehen die Deutschen und Ukrainer um, suchen nach Juden und polnischen Zigeunern, um sie hinzurichten. Hin und wieder wagt es der Vater der Familie doch, macht sich auf den Weg ins Dorf und versucht Brot, Kartoffeln oder Fleisch aufzutreiben. Er muss sich den Henkern nähern, wenn er seine Familie im Wald vor dem Hungertod retten will. Ihr Überleben ist ein Balanceakt zwischen locker sitzenden Pistolen und dem langsamen Verhungern.

Die Familie Debicki ist es gewohnt, vom guten Willen der Leute zu leben. Denn neben ihren Arbeiten und dem Geld, das sie damit verdienen, sind sie auch immer abhängig von den Reaktionen der Dorf- und Stadtbewohner. Wenn sie ihr Lager aufschlagen, kommen zumeist Neugierige, die sehen wollen, wie das fahrende Volk lebt. Sie gesellen sich zu ihnen, betrachten das bunte Treiben im Lager. Aber Ablehnung und Verleumdung schlägt den Zigeunern auch regelmäßig entgegen. Oft werden sie des Diebstahls beschuldigt, sobald sie an einem Ort haltmachen und sich einrichten wollen. Dann werden sie vertrieben, mit oder ohne Hilfe der Polizei, und manchmal verfolgt. Rechte werden ihnen nur selten zugesprochen.

Im Krieg wird die Haltung der Dorfbewohner zu einem Faktor, der über Leben und Tod entscheiden kann. Wer die Zigeuner nicht mag, verpfeift sie an die Deutschen oder Ukrainer. In der Regel bedeutet das ihren Tod. Wer aber helfen will, bietet ihnen einen Unterschlupf oder Nahrung an. Aber auch das kann gefährlich sein, denn Razzien finden regelmäßig statt und wer Juden oder Zigeuner versteckt, macht sich schuldig, muss um das eigene Leben fürchten. Deshalb verbringt die Familie Debicki viel Zeit in Wäldern und Sümpfen, wo man sie nicht auffinden kann.

Die Unmittelbarkeit und Authentizität des Buches wird durch mehrere Fotos im Anhang noch erhöht. Familienmitglieder aus den vorangegangenen Schilderungen sind darauf zu sehen. Es sind die Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel und Cousins des Autors. Viele von ihnen haben den Krieg nicht überlebt, wurden nur zu Beginn des Buches erwähnt, da das Leben noch einfacher und sicherer war. Oft finden sich Musikinstrumente auf den Abbildungen. Auch sie erinnern an die Zeit vor dem Krieg, da auf den meisten Zigeunerwagen eine Harfe zu finden war und es noch reichlich Gelegenheiten gab zu musizieren und zu tanzen.

In der deutschen Übersetzung des Buches von Edward Debicki werden die Begriffe Zigeuner und Zigeunerin auf Wunsch des Autoren verwendet. Sie folgen darin der polnischen Originalausgabe.

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